Muss Europa die türkische Währungskrise fürchten?
Nach dem drastischen Kursverfall hat sich die Türkische Lira wieder etwas erholt. Die Zentralbank in der Türkei hatte Geldspritzen zugesichert, um die Talfahrt der Währung zu stoppen. Laut Analysten ist es für eine Entwarnung aber noch zu früh. Kommentatoren beleuchten mögliche Folgen der Krise für andere Länder.
Eine neue Finanzkrise lauert schon
Der Kurssturz der türkischen Währung erhöht die Sorge vor einer neuen Finanzkrise in Europa, kommentiert Le Soir:
„Die US-Notenbank Fed macht gerade eine Rolle rückwärts, und die europäische Zentralbank EZB hat angekündigt, dass sie ebenfalls ihre lockere Geldpolitik beendet, wenn auch etwas später. Wenn das nun in den kommenden Monaten ein Debakel in den Schwellenländern auslöst, würden wir eine zweite Welle der Finanzkrise erleben, unter der die Eurozone schon zwischen 2010 und 2012 gelitten hatte. Diese Perspektive ist momentan zwar noch hypothetisch, aber man sollte sie nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der Absturz der türkischen Lira offenbart auf krasse Weise die Instabilität der Weltwirtschaft. Auch die Euro-Zone wäre gegen neue finanzielle Turbulenzen nicht gefeit.“
Jetzt nicht in günstiger Türkei Urlaub machen
Auch wenn Urlaub in der Türkei jetzt noch günstiger ist, sollte man nicht hinreisen, empfiehlt der Tages-Anzeiger:
„[V]iele, die schon dort sind oder die kommenden Wochen erst fahren, werden den drastischen Verfall der Lira aufmerksam verfolgen: Ihre Ferien werden jetzt noch deutlich günstiger. ... Man kann nicht einfach zur Normalität zurückkehren, schulterzuckend den Verlust von Rechtsstaatlichkeit hin- und gleichzeitig das Geschenk eines vom türkischen Staat subventionierten Fluges annehmen. Und sich daran erfreuen, was für ein tolles Schnäppchen man gemacht hat. Man tut den inhaftierten Kritikern des Regimes, der Meinungsfreiheit, den Resten der Demokratie damit keinen Gefallen. Die einzige Möglichkeit, die ein Urlauber hat, Einfluss auf die Politik eines Landes zu nehmen, ist Geldentzug. Was ja nicht gleichbedeutend sein muss mit Liebesentzug.“
Auch der Rubel gerät unter Druck
Angesichts der türkischen Währungskrise richtet Tom Vennink, Russland-Korrespondent von De Volkskrant, den Blick auf den russischen Rubel:
„Anleger ziehen sich nun aus den Volkswirtschaften der Schwellenländer zurück und wählen stabilere Währungen wie etwa den Dollar. ... Seit 2014 versucht Russland, sich weniger abhängig von der US-Währung zu machen. Westliche Sanktionen nach der Annexion der Krim führten zu einem Wertverlust des Rubels. ... Aber auch nationale Wirtschaftsprobleme setzen den Rubel unter Druck. Die bevorstehende Rentenreform, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Anhebung der Steuern in der Metallindustrie sind Zeichen, dass der russische Staat knapp bei Kasse ist.“
Schadenfreude ist fehl am Platz
Genugtuung angesichts der Krise in der Türkei ist unangebracht, mahnt De Morgen:
„Wie sehr uns ein Typ wie Erdoğan auch gegen den Strich geht, es bleibt immer die Frage: … Was haben wir davon, wenn der Präsident gestürzt wird oder sich noch weiter radikalisiert? Was ist, wenn Russlands Präsident Putin das Nato-Mitglied Türkei tatsächlich in die Arme schließt? Was passiert, wenn der oft moralisch verfluchte Puffer gegen die Migrationsströme wegfällt? Dürfen wir beruhigt sein, dass der US-Präsident Trump mit ein paar Tweets und Drohungen eine ganze Region ökonomisch destabilisieren kann? … Die türkische Krise legt einmal mehr die geopolitische Verletzlichkeit der Europäischen Union als Projekt des friedlichen Zusammenlebens bloß. Schadenfreude ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr erlauben können.“
EU-Länder müssen sich warm anziehen
Ein Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft hätte für Europa ernsthafte Folgen, warnt Die Presse:
„So ist das Land nach den USA, China, der Schweiz und Russland der fünftwichtigste Handelspartner der EU. ... Noch gefährlicher wäre jedoch, wenn türkische Firmen und Banken ihre Kredite nicht mehr bezahlen könnten, die sie bei europäischen Instituten aufgenommen haben. Über 140 Milliarden Euro haben Banken - vornehmlich aus Spanien, Italien und Frankreich - dort im Feuer. ... Darüber hinaus könnte ein wirtschaftlicher Kollaps auch die politische Situation in der Türkei durcheinanderwirbeln. Nun wäre ein Machtverlust für die autokratische AKP grundsätzlich nichts, worüber man in Europa in Tränen ausbrechen sollte. Ein plötzliches Machtvakuum könnte aber in wichtigen Bereichen - Stichwort Flüchtlingsabkommen - neue Probleme hervorrufen.“
Achse der Trump-Opfer könnte gefährlich werden
Der US-Präsident läuft Gefahr, eine unheilige Allianz aus der Türkei, dem Iran, Russland und China zu schaffen, warnt The Daily Telegraph:
„Mit seinem Ansatz, nach dem Gießkannenprinzip gefährliche Staaten mit Sanktionen zu belegen, riskiert Donald Trump, eine Achse der Sanktionierten zu schaffen. Für sich allein genommen sind der Iran, die Türkei, Russland und sogar China durch US-Druck verwundbar. Doch wenn diese Staaten in die gleiche Ecke gedrängt werden, könnten ihre gegenseitige Unterstützung und ihre Fähigkeit, Chaos zu säen, die US-Sanktionen zum Bumerang werden lassen. Eine Allianz zwischen dem Iran und der Türkei könnte man vielleicht noch abtun, als würden sich zwei Betrunkene aneinander anlehnen und dabei der Illusion erliegen, einen Laternenmast als Stütze gefunden zu haben. Doch wenn man Russland und China einbezieht, haben sie plötzlich ein geopolitisches Hinterland.“
Ansteckungsgefahr ist enorm
Ein ökonomischer Kollaps der Türkei hätte auch anderswo verheerende Folgen, warnt Financial Times:
„Ein Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft könnte sich gefährlich auf andere Teile Asiens und Europas auswirken. Dort sackten die Aktienkurse von Banken, die als Gläubiger in der Türkei fungieren, am Freitag stark ab. Der Absturz der Lira trifft bereits die Währungen einer Vielzahl von Schwellenländern. Die geostrategischen Risiken der Krise, für die Präsident Recep Tayyip Erdoğan westliche Verschwörer verantwortlich macht, sind nicht weniger beachtenswert. Die Türkei stützt die politische Stabilität in Europa, indem sie Millionen syrische Flüchtlinge beherbergt.“
Krise wird zum Déjà-vu
Für Erdoğan dürften nun ungute Erinnerungen wach werden, erklärt der Tages-Anzeiger:
„Erdoğans grosses Versprechen war es, die Türken könnten in Wohlstand leben, solange sie nur fleissig seien und ihm das Regieren überliessen. Lange löste er dieses Gelöbnis ein, die Einkommen stiegen ständig. Nun aber führt die Rolltreppe nicht mehr aufwärts, es geht auch nach unten. Erinnerungen an 2001 werden wach. Damals explodierte die Inflationsrate bis auf fast 70 Prozent. So weit ist es noch lange nicht. Aber die Krise 2001 hatte ebenfalls nicht nur wirtschaftliche Ursachen, sie zeigte das Versagen des politischen Systems. Das brachte schliesslich Erdoğan an die Macht. Deshalb wird er diese Erinnerung nicht mögen.“
Alle Macht endet am Geldbeutel des Bürgers
Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung birgt die Krise auch eine gute Nachricht:
„Autokratische Herrscher und solche, die sich dafür halten, können wirtschaftliche Zusammenhänge nicht auf Dauer außer Kraft setzen. ... Vor der wirtschaftlichen Logik ist der sich gerne wie ein Sultan gerierende Machthaber aus Ankara auf ein deutlich kleineres Maß geschrumpft. Erdoğans wirre Reden über einen Wirtschaftskrieg, in dem sich die Türkei befinde, haben die Krise verstärkt. Und anstatt dass die Menschen, wie von Erdogan gewünscht, ihre Dollars oder Euros in heimische Lira tauschen und auf ihre Bank bringen, tauschen sie lieber ihre Heimatwährung in Dollar oder Euro. Die Macht des Autokraten endet am Geldbeutel des Bürgers.“
Mit Sanktionen kann man Erdoğan nicht stürzen
Trump wird Erdoğan mit den Sanktionen kaum schwächen, glaubt hingegen Hürriyet Daily News:
„Wenn Trump und [US-Vize-Präsident] Pence denken, sie könnten einen Volksaufstand gegen Erdoğan anzetteln, indem sie ihn mit wirtschaftlichen und militärischen Sanktionen bedrohen, so bedeutet das, dass ihre Berater keinen blassen Schimmer haben von der Psyche der Gesellschaften in der alten Welt inklusive der Türkei. Es ist wahrscheinlicher, dass die ganze Geschichte dem Präsidenten einen patriotischen Popularitätsschub bescheren wird. So gibt es keine einzige Oppositionspartei, die Erdoğan dafür angreift, dass er Trump herausfordert.“
Gefährliche Instabilität
Die Wirtschaft ist Erdoğans Schwachpunkt, analysiert Dagens Nyheter:
„Die Inflation liegt bei über 15 Prozent, aber der Präsident übt Druck auf die Zentralbank aus, damit sie den Zinssatz nicht erhöht. Investoren flüchten. Die Tatsache, dass Erdoğan seinen Schwiegersohn zum Finanzminister ernannte, weckt auch kein Vertrauen. Die neu aktivierten US-Sanktionen gegen den Iran sind ein weiteres Risiko, da die Hälfte der türkischen Ölimporte von dort stammt. Hinzu kommt die Brunson-Affäre. Es ist weder im Sinne der EU noch der USA, dass die Türkei sich abwendet. Aber Erdoğan hat eine autoritäre Decke über das Land gelegt. ... Die westliche Welt kann nicht auf demokratische Prinzipien verzichten, um den Sultan zu halten.“