Europas Zukunft: Die Fehler nicht wiederholen
Die Beziehungen zwischen Russland und dem Rest Europas haben mit dem Krieg in der Ukraine einen historischen Tiefpunkt seit dem Ende des Kalten Krieges erreicht. Sämtliche EU-Länder, die Sanktionen gegen Russland einführten, wurden von Putin auf eine Liste "feindlicher Länder" gesetzt. Die europäische Presse blickt in die Vergangenheit und reflektiert, was Europa für die Zukunft beachten sollte.
Westeuropa hat Konfrontationsdenken verlernt
Rzeczpospolita sucht nach Erklärungen für die langjährige Zurückhaltung Westeuropas gegenüber einem immer aggressiveren Russland:
„In dieser Haltung zeigen sich die Unterschiede zwischen den Ländern des 'alten' und des 'neuen' Europas. Diese beruhen auf unterschiedlichen Erfahrungen. ... Seit Mitte des 20. Jahrhunderts stehen die europäische Werte- und Interessengemeinschaft, Pragmatismus und Pazifismus im Mittelpunkt der internationalen Beziehungen Westeuropas. Diese Staaten haben ihren Wohlstand über lange Jahre durch ein Netz von wirtschaftlichen und politischen Beziehungen aufgebaut. ... Die für beide Seiten vorteilhaften Beziehungen zwischen dem Westen und Russland standen unter dem Motto 'Wandel durch Handel'.“
Aus der Vergangenheit lernen
Die Kolumnistin Xenia Tourki schreibt in Phileleftheros, was nach dem Krieg passieren sollte:
„Zweifellos muss Russland für sein Verhalten in der Ukraine einen hohen Preis zahlen. Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen dieser Zahlung und einer Demütigung. ... [Es] lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Die Kapitulation Deutschlands und die demütigenden Bedingungen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurden, führten zur Auflösung der Weimarer Republik und zum Aufstieg Hitlers. Im Gegensatz führten die Hilfe, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg angeboten wurde, sowie die Hilfe für das ebenfalls besiegte Japan, dazu, dass die beiden Länder einen friedlichen Kurs einschlugen.“
Vorsicht vor Zensur
In einem offenen Brief in Expresso warnen 20 portugiesische Prominente, darunter der Soziologe Boaventura de Sousa Santos, vor Gleichschaltung und Verfolgung Andersdenkender:
„Überall in Europa erleben wir eine 'notwendige Zensur', bei der unter Missachtung aller vermeintlichen westlichen Werte Sportler ausgeschlossen, Ausstellungen geschlossen, Theaterspielzeiten gestrichen, Regisseure, Lehrer und Dirigenten entlassen, Konzerte und Ballettaufführungen, Literaturstudiengänge und Filmzyklen ausgesetzt werden. ... Die Unterzeichner [dieses Briefes] weigern sich, sich denjenigen anzuschließen, die das Denken unter Quarantäne gestellt haben und all jene verfolgen, die die Logik der Konfrontation, die Zunahme der Spannungen und den pathologischen Wunsch nach einer weltweiten Ausbreitung des Krieges ablehnen.“
Ein schmerzhaftes Erwachen
Der Philosoph Massimo Cacciari trauert in La Stampa:
„Der Fall der Mauer und die Perestroika von Gorbatschow hatten für alle europäischen Politiker, die diese Bezeichnung verdienen, für die europäische Intelligenz, für das Gewissen der großen Mehrheit unserer Nationen die konkrete Aussicht bedeutet, dass das bis dahin Unmögliche zu einer realen Möglichkeit geworden war. Europa konnte endlich das sein, was seine Kultur versprach, aber nie erreichen konnte: ein großer Raum, in dem Unterschiede in Sprache, Tradition und Religion von ewigen Feindschaften in gegenseitige Anerkennung, in die Fähigkeit zum Zuhören und zum Dialog verwandelt wurden. ... Ein großer Raum, in dem das große Russland nicht fehlen durfte.“
Eine neue Teilung Europas
Der Politikwissenschaftler Carlos Marques de Almeida befürchtet in Eco, dass Europa vor einer neuen Teilung steht:
„Auf die demokratische Illusion [einer friedlichen Weltordnung] folgt die große demokratische Enttäuschung und die Rückkehr zu einem Politikverständnis, das durch die Existenz eines politischen Feindes gekennzeichnet ist. ... Der russische Einmarsch in die Ukraine ist vielleicht der erste Schritt in Richtung einer neuen Teilung Europas - die formale Teilung zwischen West- und Osteuropa unter der Führung Russlands, das politisch und kulturell als eine Zivilisation dargestellt wird.“
Chance auf Frieden verpasst
Europa hat sich als unfähig erwiesen, die Ukraine-Krise zu verhindern, schreibt der Akademiker und Schriftsteller Stephanos Konstandinidis in Phileleftheros:
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ukraine eine russische Invasion und die Welt einen neuen Kalten Krieg und die Gefahr eines nuklearen Holocausts vermieden hätte, wenn Europa seine eigene Politik verfolgt hätte, statt der amerikanischen Hegemonie zu dienen. Europa hatte die Möglichkeit, Russland in ein europäisches Sicherheitssystem zu integrieren, was auch der Entwicklung demokratischer Institutionen in diesem Land förderlich gewesen wäre, und hat es nicht getan. ... Europa hat sich für eine Lösung entschieden, die sich bereits jetzt als katastrophal für die eigenen Interessen erweist.“
Durch Covid sind die Russen in Isolation trainiert
International isoliert und Repressalien im eigenen Land ausgesetzt gehen viele Russen in die "innere Emigration". Laut Kommersant hat Covid-19 sie mental darauf vorbereitet:
„Flüge ins Ausland sind gestrichen - was soll's, wir hatten uns noch nicht daran gewöhnt, dass es sie wieder gibt. Covid hat uns gelehrt, dass jedwede Kontakte unvermittelt unterbrochen und vertraute Reiserouten blockiert sein können. ... Die Epidemie-Maßnahmen zwangen viele, sich im trauten Heim, Privatleben und Internet einzurichten. ... Auch das wurde als von außen auferlegte Sanktionen empfunden: Die Welt ist gefährlich krank und diese Krankheit muss man zuhause aussitzen. ... Dieser Gedanke ist in den letzten Jahren zur Gewohnheit geworden und muss nun nur an neue Ausgangsfaktoren angepasst werden.“
Neues Kräfteverhältnis
Der Westen wird aufrüsten müssen, glaubt Corriere della Sera:
„Putin wird nicht aufhören, bis es ihm gelingt, in Kyjiw eine Marionettenregierung einzusetzen. Oder bis China Druck auf Putin ausübt und ihn zwingt, eher aufzuhören. ... Auf jeden Fall müssen die europäischen Regierungen, wenn die Waffen nach so viel Tod und Zerstörung endlich schweigen, in der Lage sein, der Öffentlichkeit zu erklären, dass sich das Kräfteverhältnis in Europa für immer verändert hat. ... Die Regierungen müssen ihren Wählern klar machen, dass wir über eine starke und glaubwürdige Abschreckungsmacht verfügen müssen, wenn wir nicht wollen, dass es früher oder später zu einem Krieg kommt.“
Eurobonds für den Wiederaufbau
Europa braucht jetzt den Mut, nicht nur an kurzfristige Lösungen zu denken, sondern einen Wiederaufbauplan zu entwickeln, meint Jornal de Notícias:
„Wir können gerne die Energiesteuern senken, die Militärbudgets aufstocken, die verlorenen Zentren der Nahrungsmittelproduktion wiederherstellen. Doch wir sollten auch sofort einen ehrgeizigen Plan entwerfen, um den sozialen und wirtschaftlichen Aderlass, der weitaus verheerender sein könnte als die durch das Coronavirus verursachte Krise, so weit wie möglich einzudämmen. Die Idee der Ausgabe von Eurobonds, wie sie nach der Pandemie angedacht wurde, muss daher von den europäischen Partnern ernsthaft diskutiert werden. Auch von denen (den üblichen), die den Geldbeutel nicht öffnen wollen.“
Es wird noch komplizierter
Die Beziehung der EU zur Ukraine wird voller Konflikte sein, prophezeit Libertatea:
„Die radikalisierte Gesellschaft wird europäisches Geld fordern, doch zugleich alle Forderungen der EU zurückweisen, die nicht mit den eigenen nationalistischen Visionen übereinstimmen, die den Widerstand gegen Russland gefestigt haben. … Unabhängig vom Ausgang des Kriegs, unabhängig davon, wer gewinnt oder verliert, wird das Leben in der Ukraine viel komplizierter werden als vor dem Krieg. Wenn bislang Ungarn, Polen oder Rumänien aus verschiedenen Gründen die 'Problemkinder' der EU waren, was wird dann erst mit der Ukraine passieren, die sehr viel weiter zurück ist, was das demokratische Verständnis angeht und die demokratischen Institutionen?“
Ankaras klares Bekenntnis zur Nato
Putin hat der Beziehung zwischen der Türkei und der Nato neuen Elan verliehen, meint der Politikwissenschaftler Dominique Moïsi in Les Echos:
„Putin hat nicht nur Staaten, die traditionell Vorbehalte gegen jegliche Form eines Militärbündnisses haben, wie Schweden und Finnland, zum Umdenken gebracht, sondern auch einem der aufsässigsten Mitglieder der Nato, der Türkei, die Gelegenheit gegeben, sich klar für eine Seite zu entscheiden. ... Ankara möchte aus geografischen und historischen Gründen nicht, dass Moskau die Kontrolle über Odessa und das Schwarze Meer zurückerlangt. Es braucht so wenig, um die uralten Rivalitäten zwischen dem Osmanischen und dem Russischen Reich auferstehen zu lassen.“