Nach der Wahl: Wohin steuert Frankreich?
Nach dem Sieg des Linksbündnisses Nouveau Front populaire (NFP) bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen steht Frankreich vor einer schwierigen Regierungsbildung. Das Macron-Lager Ensemble (163 Sitze) und der rechtspopulistische RN (143) liegen nur knapp hinter dem NFP (180), die absolute Mehrheit liegt bei 289 Sitzen. Kommentatoren debattieren, wie das Land aus der Pattsituation kommen könnte.
Wohl des Landes über Parteiinteressen stellen
Es ist Zeit, bei der Regierungsbildung neue Wege zu gehen, fordert Franck Leroy, Präsident der Region Grand Est, in La Tribune:
„19 der 27 EU-Länder funktionieren auf der Grundlage einer parlamentarischen Koalition und das klappt! Probieren die politischen Kräfte des republikanischen Lagers einen erneuerten Parlamentarismus aus, können sie diesen unerlässlichen kulturellen Wandel vollziehen. Diesen Weg abzulehnen, bedeutet, Parteiinteressen über das Interesse des Landes zu stellen, die Schwierigkeiten zu leugnen, vor denen wir stehen, die durch die internationalen Spannungen ausgelösten Gefahren zu vernachlässigen und die Erwartung der Mehrheit der Französinnen und Franzosen zu ignorieren.“
Die letzte Chance für die Linke
Frankreich braucht neue Ideen und Vorgehensweisen, meint Visão:
„Das Gefühl der Einheit, das sich erneut bei der Verteidigung der republikanischen Ideale gezeigt hat, kann nicht nur auf Ablehnung beruhen. Es muss sich wirklich etwas ändern und die demokratischen Parteien müssen in der Lage sein, auf die Herausforderungen der neuen Zeit mit Vorschlägen und Aktionen zu reagieren, die einen Unterschied machen. Die Linke, die in Frankreich gewonnen hat, hat jetzt die letzte Chance, sich neu zu erfinden. Andernfalls wird sie sich darauf beschränken, zu Demonstrationen auf der Place de la République aufzurufen, wann immer sie von den Entscheidungen der Wähler erschreckt wird. Bis es zu spät ist.“
Sorgen der Wähler ernst nehmen
Es ist Zeit für Zusammenschlüsse und konkrete Problemlösungen, fordert Le Monde:
„In einer Nationalversammlung, die dazu verdammt ist, ihre Zusammensetzung mindestens ein Jahr lang beizubehalten, wäre es unverantwortlich, sich einer Öffnung zu verweigern. ... Die Wähler haben im doppelten Wahlkampf für das Europaparlament und die Nationalversammlung große Unzufriedenheiten insbesondere in den Bereichen Kaufkraft, öffentliche Dienste und Sicherheit geäußert. Allen gegenüber, die dem RN Kontra geben wollen, würde das Misstrauen steigen, wenn sie nicht versuchen, Antworten darauf zu liefern. ... In seiner aktuellen Form eröffnet das parlamentarische Spiel zahlreiche Optionen. Man sollte die Zeit wirken lassen, damit jeder das begreift.“
Den Hass vorbildlich zurückgedrängt
Das Wahlergebnis ist nicht bloß ein Erfolg der Parteien, findet Kolumnistin Nagehan Alçı in Habertürk:
„Auch die französische Bevölkerung muss beglückwünscht werden. Sie haben sich so schnell gegen Hasssprache, Diskriminierung und Ausgrenzung solidarisiert. Sie haben sich so sehr für die Einwanderer und den Pluralismus eingesetzt. Daraus müssen wir lernen. Ich weiß nicht, ob Sie die pro-migrantischen Banner auf den Straßen von Paris gesehen haben. Ehrlich gesagt, als ich diese Transparente sah, musste ich an die unangenehmen [fremdenfeindlichen] Ausschreitungen denken, die wir letzte Woche in Kayseri erlebt haben und an den syrischen Jugendlichen, der in Antalya erstochen wurde. Ich habe mich geschämt.“
Ungewissheit als neue Gewissheit
Jetzt in der Regierung Frankreichs zu sein, ist nicht unbedingt ein gutes Geschäft, meint Válasz Online:
„Die Parteien schielen bereits auf die Präsidentschaftswahl 2027. Da Emmanuel Macron nicht mehr kandidieren kann, denken die Politiker, die infrage kommen könnten, nicht nur morgens beim Rasieren darüber nach, den Elysée-Palast zu erobern. Dafür ist es aber kein gutes Vorspiel, an einer Regierung teilzunehmen, die mit Sicherheit instabil und die gezwungen sein wird, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen. Wie auch immer es ausgeht, die zersplitterte Nationalversammlung verspricht, dass die Ungewissheit die neue politische Gewissheit in Frankreich wird.“
Mehrheitswahlrecht täuscht Linksruck vor
Weder in Großbritannien noch in Frankreich hat die Linke Anlass zu übermäßiger Euphorie, meint die Süddeutsche Zeitung:
„Auf den ersten Blick kann man in der Tat den Eindruck gewinnen, dass die Linke in beiden Ländern gezeigt hat, dass sie die Rechte doch noch besiegen kann. Tatsächlich jedoch sind beide Wahlen Ausdruck des anhaltenden Rechtsrucks in vielen Ländern der Welt. Es gibt einen gemeinsamen Faktor, der in Frankreich und Großbritannien für die Wahlergebnisse verantwortlich ist: das Mehrheitswahlrecht. ... In beiden Ländern spiegelt es, zumindest derzeit, nicht die Mehrheitsverhältnisse wider. ... Auf der Linken sollte man sich hüten vor der Annahme, das Wahlvolk sei ihnen plötzlich doch wieder gesonnen.“
Mélenchons Dilemma
Das Webportal Protagon schreibt über die Zukunft des La-France-Insoumise-Chefs:
„Dieser arrogante, unsympathische und selbstverliebte linke Napoleon hat etwas erreicht, das niemand leugnen kann: Er hat der Linken die Wählerstimmen des Volkes zurückgegeben und damit das Monopol gebrochen, das die extreme Rechte dort zu schaffen versuchte. ... Er ist der Mann, der Le Pen besiegt hat. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass seine historische Rolle hier endet. ... Eine systemischere Linke, die mit der Mitte regieren will, braucht einen ganz anderen Führer als Mélenchon. Und eine eher gegen das System eingestellte Linke, die in einen Prozess der Polarisierung mit der extremen Rechten und der Mitte eintreten wird, wird einen jüngeren Nachfolger brauchen.“
Schwacher Macron, schwache EU
Mit der vorgezogenen Wahl und seinem geschwächten Bündnis hat der französische Präsident sich und Europa einen Bärendienst erwiesen, klagt Kolumnist Timothy Garton Ash in The Guardian:
„Für Europa ist es eine Tragödie. Denn Macron war der stärkste Verfechter dessen, was wir Europäer in einer überhitzenden, zwischen Putin, Trump und Xi Jinping hin- und hergerissenen Welt dringend brauchen: mehr Einheit, mehr Kohärenz, mehr Einfluss. ... Seit Kurzem ist er zudem die einflussreichste westeuropäische Stimme für eine verstärkte Unterstützung der bedrängten Ukraine, deren Schicksal auf dem Spiel steht. Noch vor wenigen Wochen warnte uns Macron: 'Europa ist sterblich.' Nun hat er sich und Europa in einem Akt von Torheit und Arroganz einen Dolchstoß versetzt.“
RN geht gestärkt in die nächste Runde
Ouest-France gibt zu bedenken:
„Lassen wir uns nicht täuschen. Der RN ist nach dieser Wahl geschlagen, aber er hat Erfolge verbucht. ... Im Gegensatz zur NFP oder zu Ensemble pour la République besteht der RN aus einem einzigen Block. Er ist die Partei, die ohne Bündnisse die meisten Sitze errungen hat, die einzige, die sich rühmen kann, ein Drittel der Wähler auf ihren Namen zu vereinen, und sie wird in erheblichem Umfang neue finanzielle Mittel erhalten, um sich auf die nächsten Wahlen vorzubereiten. Eine lange Phase der politischen Stagnation oder eine neue politische Führung - die weder die Erwartungen erfüllt noch auf die Ängste eingeht, die von einem Teil der Franzosen bei den Parlamentswahlen geäußert wurden - würden dem RN zweifellos in die Hände spielen.“
Unproduktiver Streit in Sicht
Frankreich steht vor einer politischen Krise, meint Dnevnik:
„Die Nationalversammlung ist nun in drei große Lager gespalten, die jeweils weit von einer absoluten Mehrheit entfernt sind und die sich gegenseitig ausschalten werden. Die extreme Rechte bleibt ausgeschlossen, und der für die Wahlen geschlossene Pakt zwischen dem linken und dem Mitte-Lager dürfte in einer Regierung oder Koalition kaum Bestand haben - aufgrund völlig unterschiedlicher Programme und gegensätzlicher Positionen, die in Bezug auf die Rentenreform am deutlichsten werden. Selbst innerhalb der NFP gibt es unüberbrückbare Differenzen, insbesondere zwischen der radikalen Linken und den Sozialisten, unter anderem in Bezug auf die Hilfe für die Ukraine.“
Eine Blockade in Paris schwächt auch Europa
Turun Sanomat befürchtet, dass Frankreich auf längere Zeit handlungsunfähig sein könnte:
„Die Alternativen sind eine schwache Minderheitsregierung oder eine für Frankreich untypische Regierungskoalition. ... Obwohl das Wahlergebnis für Macron besser war als vorhergesagt, sind sein innenpolitisches Ansehen und seine außenpolitische Glaubwürdigkeit nun schwächer als vor den Wahlen. Die Pattsituation bei den Regierungsverhandlungen könnte schlimmstenfalls Monate andauern. Ein innenpolitisch gelähmtes Frankreich wäre für ganz Europa schlecht.“
Den Faschismus solidarisch zurückgedrängt
T24 zollt den Anstrengungen der "Republikanischen Front" gegen den RN Respekt:
„Das war ein Erwachen, das war Widerstand! Für das Erwachen war es notwendig zu erkennen, was droht; für den Widerstand war es notwendig, Schulter an Schulter zu stehen und sich die Mühe zu machen, zu wählen. ... Man musste sich binnen einer Woche Gehör verschaffen und insbesondere diejenigen Schichten erreichen, die im ersten Wahlgang nicht zur Wahl gegangen waren. ... Konsens, Opferbereitschaft und Solidarität waren für den Widerstand unerlässlich. ... Eine als ausgemacht geltende faschistische Regierung innerhalb einer Woche zu verhindern, ist eine noch erfolgreichere Leistung als die der französischen Fußball-Nationalmannschaft, die das Halbfinale nur dank gegnerischen Eigentoren und Elfmetern erreichte.“
Erfolg eines zu oft unsichtbaren Frankreichs
Avvenire betont, wie viele Menschen und Organisationen sich klar positioniert haben:
„Diejenigen, die die französische Flagge hochhalten, sei es bei Sportwettkämpfen oder auf Bühnen, sind oft Doppelstaatsbürger. ... Zwischen den beiden Wahlrunden hatten Persönlichkeiten aus Sport und Showbusiness – angefangen bei Fußballstar Kylian Mbappé und seinen Nationalmannschaftskollegen – vor der vom RN ausgerechnet im Land des Mottos Liberté, égalité, fraternité vorangetriebenen Diskriminierung gewarnt. Parallel dazu haben Gewerkschaften, Verbände, darunter auch christliche, Pädagogen und Kulturzentren Appelle formuliert. Mehr denn je hat sich also ein anderes, von starken Gefühlen motiviertes 'unsichtbares Frankreich' in den Wahlkampf eingeschaltet.“
Ende der Reformen
Cicero schwant angesichts der Aussicht auf eine Linksregierung Übles:
„Rückenwind für eine noch expansivere Sozial- und Wirtschaftspolitik (auf dem Umweg über Brüssel betrifft das auch deutsche Steuerzahler und Sparer), eine laxere Einwanderungspolitik und noch mehr Kulturkampf von oben. Die Reformversuche Macrons zur Stärkung der französischen Wirtschaftskraft sind endgültig passé. Das bedeutet aber auch und erst recht: Die Ursachen für das kontinuierliche Erstarken des RN werden nicht weniger, sondern mehr werden. Die sozialen und vor allem kulturellen Konflikte werden sich verschärfen.“
Mélenchon noch pro-russischer als Le Pen
Der Publizist Michał Szułdrzyński warnt in Rzeczpospolita:
„Die Absage an Le Pens Vision eines Rechtspopulismus wurde mit dem Einzug des Linkspopulismus von Mélenchon an die Macht erkauft. Und das ist überhaupt keine gute Nachricht für die Ukraine und die Länder unserer Region. Ich verstehe auch nicht, warum Donald Tusk das Gefühl hatte, dass man in Moskau nach dieser Wahl enttäuscht war. Die Macht in Frankreich ist nicht in die Hände der pro-russischen Le Pen gefallen, sondern wurde von einem Bündnis errungen, in dem der noch pro-russischere Mélenchon die erste Geige spielt.“
Macrons Pokerspiel ist aufgegangen
Público ist beeindruckt:
„Der Schachzug, den Emmanuel Macron am Abend der Europawahlen nach seiner Niederlage gegen die Partei von Marine Le Pen gemacht hat - die Ausrufung vorgezogener Parlamentswahlen - schien in den letzten Tagen und nach den letzten Umfragen ein Sprung in den Abgrund zu sein. Letztlich hat diese Entscheidung das politische System Frankreichs ordentlich aufgemischt und Le Pens RN auf den dritten Platz verwiesen. Le Pen ist heute schwächer als unmittelbar nach den Europawahlen, Macron ist stärker und liegt mit seiner Partei vor dem RN. Der große Sieg geht an das unerwartete Linksbündnis.“
Demokratie erfolgreich verteidigt
Libération lobt die Wähler:
„Die Franzosen haben einmal mehr eine außergewöhnliche politische Reife bewiesen, indem sie sich massiv beteiligt haben, um die aus der Aufklärung geerbten republikanischen Werte zu verteidigen, auf denen unsere Demokratie basiert. … Werte, die der angeblich entdämonisierte RN in Wirklichkeit weiterhin bedroht. Indem sie zu einer rechtsextremen Regierung Nein gesagt haben, haben die Franzosen die Vorstellung eines fremdenfeindlichen, verkommenen, abgeschotteten Frankreichs abgelehnt, in dem der Rechtsstaat zweifellos nach und nach ausgehöhlt worden wäre. … Die geeinte Linke war die erste, die die Wähler ganz klar dazu aufgerufen hat, sich zu wehren. Sie wurde dafür in gewisser Weise belohnt. … Ihre Mehrheit ist natürlich nur relativ, aber sie verpflichtet sie, dieser Reife der Wähler gerecht zu werden.“
Teure Extrarunde
In Le Figaro kritisiert der Essayist Maxime Tandonnet hohe Kosten der Wahl für die Bevölkerung:
„Es gibt nur einen Verlierer: die gutgläubigen Franzosen, die sich von dieser Wahl einen Wandel erhofft hatten, nun aber eine Art Status quo in schlimmerer Form vorfinden, eine unregierbare Nationalversammlung und eine französische Politik, die im absoluten Chaos versinkt. Wie viel wird dieses zweiwöchige absurde Psychodrama das Land am Ende gekostet haben, in Bezug auf hysterische Uneinigkeit, Spannungen zwischen den Franzosen, Radikalisierung auf der rechten sowie auf der linken Seite, Gewalt, Angst und Schrecken, enttäuschte Hoffnungen, Verluste für die französische Wirtschaft und verlorene Zeit? ... Frankreich begibt sich ins Ungewisse.“
Es wird wohl eine Mitte-Regierung geben
Die NFP hat Erfolg gehabt, aber er wird nicht von Dauer sein, glaubt Corriere della Sera:
„Nicht nur die Pro-Europäer von Raphaël Glucksmann, auch die Sozialisten von François Hollande haben mit dem Populismus von Mélenchon und seinem außenpolitischen Schlingerkurs wenig gemein. Nun wird im Parlament eine Mehrheit gesucht, die die etwas unnatürliche Koalition widerspiegelt, die sich in den Wahlurnen herauskristallisiert hat: reformorientierte Linke, pro-europäische Rechte, Macron'sche Mitte. Eine Mehrheit, die drei Jahre Zeit hat, um einen Kandidaten zu finden, der nicht nur in der Lage ist, die extreme Rechte zu schlagen, sondern auch alle Seelen Frankreichs zu vertreten und das Land wieder zu vereinen. Eine wichtige Rolle könnte Hollande spielen, der ehemalige Präsident.“
Auf dem Weg in unbekannte gemäßigte Gewässer
Auch Zeit Online überlegt, wie es jetzt weitergeht:
„Präsident Emmanuel Macron wird voraussichtlich versuchen, eine Art großer Koalition zu schmieden. Mit vernünftigen Linken, seinen eigenen Abgeordneten und gemäßigten Konservativen. Rein rechnerisch könnte ein solches Bündnis vielleicht sogar in die Nähe einer absoluten Mehrheit kommen. Denn das ist die vielleicht erfreulichste Nachricht dieses Abends: Die Zahl der gemäßigten Abgeordneten, links wie rechts, scheint größer zu sein als die der radikalen. Trotzdem wäre ein solches Bündnis ein Novum für das Land, das keine Koalitionen kennt und dessen politische Kultur bislang wenig Spielraum für Kompromisse lässt.“
Bedrohliches Szenario für die Wirtschaft
Wenn das siegreiche Bündnis seine Vorhaben umsetzt, droht eine veritable ökonomische Krise, warnt The Daily Telegraph:
„Präsident Macrons Entscheidung, sich mit den Linken zusammenzuschließen, könnte schwerwiegende Folgen für die französische Wirtschaft haben. Die Nouveau Front populaire (NFP) ist ein hastig arrangiertes Bündnis aus zerstrittenen Grünen, Sozialisten und Kommunisten. Sie versprechen, die Lebensmittelpreise zu kontrollieren, das Recht auf Rente mit 60 wieder einzuführen, den Mindestlohn deutlich anzuheben und die Unternehmenssteuern zu erhöhen. Sollten diese Maßnahmen jemals umgesetzt werden, würden sie das Land Milliarden Euro kosten – und die französische Wirtschaft in eine noch größere Krise als je zuvor stürzen.“