Deutsche Grenzkontrollen: Was sagen die Nachbarn?
Deutschland will ab kommender Woche Kontrollen an allen Grenzen einführen. Als Gründe führte Innenministerin Nancy Faeser an, die irreguläre Migration beschränken und den Schutz vor Terrorismus und grenzüberschreitender Kriminalität verstärken zu wollen. Auch "europarechtskonforme Zurückweisungen" sollen ermöglicht werden. Europas Presse debattiert die internationalen Konsequenzen.
Ein Trauerspiel
Dass Deutschland mit seinem Vorpreschen das Schengener Abkommen aufs Spiel setzt, steht für das Tageblatt außer Frage:
„Die Folgen für die Freizügigkeit der Personen und für den europäischen Binnenmarkt wären erheblich und Europas Wirtschaft, um die es nicht zum Besten steht, würde weiter leiden. ... Die europäische Migrationspolitik ist ein Trauerspiel. News sind das allerdings keine und das Spiel immer das gleiche. In Italien und Griechenland kommen die Leute an, doch den beiden Ländern wollten und wollen die anderen nicht ausreichend helfen. Also leiten Athen und Rom die Migranten unregistriert weiter, viele davon nach Deutschland, wo besonders nach dem Terroranschlag von Solingen die Sicherungen vollends durchgebrannt sind. Mit den oben beschriebenen Folgen für die ganze EU.“
Probleme gemeinsam lösen
Die Süddeutsche Zeitung kritisiert, dass die Bundesregierung im Alleingang handelt:
„Kein Sonderrat der Innenminister wird einberufen, kein Treffen der deutschen Innenministerin oder gar des Bundeskanzlers mit den Nachbarn. Dabei war in Europa die Gelegenheit selten so günstig, einen gemeinsamen Blick auf das Jahrhundertproblem Migration zu entwickeln. Ob aber eine europäische Politik entstehen kann, die dem humanitären und rechtsstaatlichen Anspruch der EU gerecht wird, entscheidet sich nicht am Schlagbaum in Kehl, Freilassing oder Gubin. Das wird Europa nur gemeinsam klären können.“
Eine offene Debatte hätte geholfen
Auch für Deutschland ist das Thema Immigration mittlerweile zum heißen Eisen geworden, analysieren die Rechtsprofessoren Anne Jacquemet-Gauché und Nils Schaks in Le Monde:
„Die Entwicklung in Deutschland zeigt nunmehr, dass es in Sachen Zuwanderungspolitik keine Zauberlösung gibt. ... Hätte in Deutschland unter Beachtung der Bedürfnisse der Gesellschaft eine offenere Debatte über den Erfolg der Zuwanderung stattgefunden, wäre es nun möglicherweise nicht zu einem abrupten Kurswechsel gekommen, der weder völlig glaubwürdig noch realistisch erscheint und zudem schlussendlich die extreme Rechte stärkt. Die Zeiten des optimistischen Slogans 'Wir schaffen das!' sind vorbei und das Land fragt sich besorgt, wie es die Herausforderung der Zuwanderung meistern kann.“
Scheinheiliger geht es kaum
Das regierungsnahe Webportal Liberal schreibt verärgert über den Druck auf Griechenland:
„Offensichtlich behandelt uns Deutschland so, wie Großbritannien Ruanda behandelt, wohin es Einwanderer schicken will (ein Plan, der nicht sehr gut läuft), oder wie Italien Albanien behandelt, wohin es Einwanderer exportieren will! Um einen politischen Selbstmord von Scholz' instabiler Koalition zu verhindern, soll lieber die griechische Regierung den Kopf hinhalten. ... Die Deutschen wollen mit einer hegemonialen Mentalität ihr Problem in Länder exportieren, die sie als zweitrangig betrachten und empfänglich für ihren Einfluss halten, aber gleichzeitig den Anschein von Humanität wahren.“
Schlagbäume halten niemanden zurück
Deutschland will wieder Grenzkontrollen einführen, die radikal-rechte Regierungspartei PVV in den Niederlanden will sich anschließen. Trouw spricht von einer Panikreaktion:
„Tatsache ist, dass die Regierung in Berlin erschrocken ist über den jüngsten großen Wahlsieg der xenophoben, extremrechten Alternative für Deutschland (AfD) im Osten des Landes. Zwei terroristische Anschläge reichen dann offensichtlich aus, um die Grenzen zu schließen. Die Begeisterung, mit der diese Entscheidung in den Niederlanden aufgenommen wurde, gibt auch zu denken. ... Gerade für eine offene Wirtschaft wie die niederländische sind Grenzkontrollen ein schwerer Schlag. Und, so lehrt der Brexit, Immigration begrenzt man damit auch nicht.“
Wie kopflose Hühner
Die EU-Regierungschefs handeln panisch, kritisiert Le Soir:
„Mit solchen Regierungen braucht man keine extreme Rechte an der Macht: Die Spitze der AfD hat es sich nicht nehmen lassen, über die Demokraten zu spotten, die endlich die Politik umsetzen, 'die wir seit zehn Jahren fordern'. Der Europäische Migrationspakt – der weit davon entfernt ist, perfekt zu sein, aber eine gerechte Umverteilung von Geflüchteten zwischen den Aufnahmeländern organisiert – wurde, kaum dass er beschlossen war, bereits wieder verworfen. Der Druck der Wahlen und die Angst vor extremen Kräften lassen die Regierenden wie kopflose Hühner umherirren, wobei der Migrant als Ventil dient.“
Das Maß ist voll
Die unkontrollierte Migration hat das Potenzial, die EU zu zerreißen, meint Die Presse:
„Als europäischer Musterstaat hat Deutschland jahrelang mitgespielt. Doch das Maß ist nun voll. Der Terroranschlag von Solingen ... markiert eine tiefe Zäsur in der Bundesrepublik. ... Wenn Deutschland dicht macht oder mit effizienten Blitzverfahren direkt an der Grenze Drehtüren für Migranten errichtet, ist mit einem Dominoeffekt zu rechnen, der sich bis an die EU-Außengrenze fortsetzen könnte. ... Sollte sich Deutschland schlitzohrig über EU-Recht hinwegsetzen, wäre der Preis hoch: Dann machen erst recht alle, was sie wollen. Zu warten, bis die extreme Rechte ganz Europa regiert, ist indes auch keine Option. Es muss etwas geschehen. Die irreguläre Migration überfordert Europas Gesellschaften.“
Das schwächt nur die EU
Die taz befürchtet einen gefährlichen Domino-Effekt:
„Bei keinem Thema ist die Zündschnur so kurz. Österreich hatte im vergangenen Jahr mehr oder weniger klag- und geräuschlos über 12.000 Zurückgewiesene aus Deutschland akzeptiert, nun, im Wahlkampf, nach dem Gepolter aus Berlin, soll damit Schluss sein. Und dann? Andere Staaten dürften sich an dem Gebaren ein Vorbild nehmen. Die Folge kann eine Kaskade von Grenzschließungen und Zurückweisungen, bis zu den Außengrenzen, sein – wo dann tatsächlich Chaos ausbricht und der Groll auf die EU-Partner weiter wächst. ... Schaukelt sich die Stimmung in der EU so an der Flüchtlingsfrage weiter hoch, schwächt das die EU fraglos weiter. Die Zeit dafür könnte bekanntermaßen kaum schlechter sein.“
Die Ära Merkel in Trümmern
Tygodnik Powszechny schreibt:
„Die Grundlagen der Politik, die Angela Merkel in den letzten 20 Jahren verfolgt hat, liegen in Trümmern. Die Beziehungen zu Russland wurden am Tag des russischen Einmarsches in der Ukraine beendet. Der aktuelle CDU-Vorsitzende Friedrich Merz will die Grenzen schließen, die Merkel 2015 weit geöffnet hat. Und die Hiobsbotschaften von VW zwingen dazu, das deutsche Wirtschaftsmodell zu hinterfragen. Doch die Probleme, mit denen Deutschland konfrontiert ist, sind auch die des ganzen Kontinents. Sie sind die Probleme der polnischen Grenzen, die von jeder Änderung der Migrationspolitik in Berlin betroffen sind. Sie sind die Probleme polnischer Zulieferer und Fabriken, die von Aufträgen deutscher Konzerne leben. Sie sind die Probleme der polnischen Militärstrategie, sollten die Deutschen beginnen, ihre Unterstützung für Kyjiw zurückzufahren.“
Das Ende des freien Reisens
Die dänische Regierung hat seit vielen Jahren Grenzkontrollen immer wieder mit unterschiedlichen Begründungen durchgeführt. Die deutsche Entscheidung wird das zementieren, fürchtet der Nordschleswiger:
„Offiziell sind die [angekündigten deutschen Grenzkontrollen] zwar auch temporär, aber im Endeffekt bedeutet die Ankündigung das Ende des freien Reisens quer durch die Europäische Union. ...Und ab jetzt wird es heißen: Schließlich kontrolliert Deutschland ja auch. ... Sicherlich werden die einen oder anderen Kontrollen nicht verlängert werden, aber irgendwo wird mit Sicherheit kontrolliert werden – und an der deutsch-dänischen Grenze zumindest von dänischer Seite auf alle absehbare Zeit.“
Asylrecht muss grundsätzlich überdacht werden
Für die Neue Zürcher Zeitung gehen Grenzkontrollen nicht weit genug:
„Deutschland muss massiv die Zahl der Ausschaffungen und hierfür den diplomatischen Druck auf Länder erhöhen, die sich bei der Rücknahme ihrer Staatsbürger unkooperativ zeigen. Die Zahlen gehen jüngst zwar in die richtige Richtung, aber sie reichen bei weitem noch nicht aus. Ausreisepflichtige Ausländer sollten ausserdem keine staatlichen Leistungen mehr erhalten oder allenfalls das rechtlich zwingende Minimum. Vor allem aber müsste die Regierung in Berlin bereit sein, auf europäischer Ebene eine Reform des individuellen Rechts auf Asyl voranzutreiben. Es stammt aus einer anderen Zeit. Heute wirkt es nicht nur, aber vor allem in der Bundesrepublik staatsgefährdend.“