Ungarn vor dem Flüchtlings-Referendum
In einer Volksabstimmung sollen die Ungarn am 2. Oktober über die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU abstimmen. Regierungschef Orbán lehnt die von Brüssel beschlossene Regelung ab. Für einige Kommentatoren ist das Ergebnis schon jetzt klar. Andere glauben, dass eine zu geringe Wahlbeteiligung Premier Orbán in Bedrängnis bringen könnte.
Geringe Wahlbeteiligung wäre Problem für Fidesz
Ein gescheitertes Referendum könnte Ungarns Opposition stärken und die Regierung ins Wanken bringen, mutmaßt Die Presse:
„Nachdem weite Teile der Opposition - abgesehen von Jobbik und einigen Kleinparteien - zum Wahlboykott aufgerufen haben, könnte ein fehlgeschlagenes Referendum Aufwind für sie bedeuten. Sollte die Wahlbeteiligung tatsächlich unter 50 Prozent bleiben, wäre das Referendum eine herbe Niederlage für Orbán. Selbst bei einem Erdrutschsieg der Nein-Stimmen könnte ein ungültiger Urnengang als Sieg der Opposition gewertet werden. Die Karten der Oppositionsparteien jedenfalls waren seit der Machtübernahme von Fidesz 2010 nicht so gut wie beim Quotenreferendum. Ein Fehlschlag beim Referendum würde nicht ohne Folgen bleiben. Ein ungültiges Votum würde zu heftigen Debatten in der Fidesz führen und Risse im Regierungslager hervortreten lassen. Selbst personelle Konsequenzen wären nicht auszuschließen. Ein Imageschaden diesen Ausmaßes könnte die Regierung destabilisieren.“
Ergebnis der Volksbefragung schon jetzt klar
Der Ausgang des ungarischen Referendums steht für Trud bereits fest:
„'Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des Parlaments die zwingende Ansiedlung von nicht-ungarischen Staatsbürgern in Ungarn vorschreiben kann?' Bei der so gestellten Frage kann es im Ergebnis keine großen Überraschungen geben, da die Frage nur eine Antwort zulässt. Die ungarischen Wähler können entweder Orbán zustimmen oder zugeben, dass die EU in Ungarn schalten und walten kann, wie sie will. Orbán will zeigen, dass die Mehrheit der Ungarn gegen die 'Brüsseler Bürokratie' und für die Erhaltung der Souveränität ist. … Wenn das Referendum erfolgreich ist, könnte es eine Welle von Referenden in anderen Mitgliedsländern nach sich ziehen, die ebenfalls die Bürde der Flüchtlingsquoten abschütteln wollen.“
Ungarn wurden auch einst von Europa aufgenommen
Schon allein aus historischen Gründen sollte Ungarn ein einwanderungsfreundliches Land sein, bemerkt der Schriftsteller László Bitó in Népszabadság:
„Angesichts unserer Geschichte sollten gerade wir bei der Aufnahme von Migranten mit gutem Beispiel vorangehen, schließlich gehörten wir zu den letzten Völkern, die von Europa aufgenommen wurden. Noch dazu galten wir aufgrund unserer Gewohnheiten und unseres heidnischen Glaubens als Fremdkörper auf dem Kontinent. Zum Glück gab es seinerzeit einen König [Stephan I.], der seinem Volk den Glauben und die Kultur der Gastgeber nahe brachte, anstatt Europa ein unorthodoxes Heidentum aufzwingen zu wollen. Leider haben heute hierzulande Politiker das Sagen, die die alte Größe Ungarns durch eine Orientierung Richtung Osten zurückerlangen wollen. … In den Köpfen dieser Eliten wabert ein krudes Gemisch aus christlichen Lehren und heidnischer Nostalgie.“
Abstimmung sollte abgesagt werden
Warum das von Ungarns Premier Orbán initiierte Referendum seine Existenzberechtigung verloren hat, erklärt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás auf dem Onlineportal Kettős Mérce:
„Juncker kündigte bei seiner Rede vor dem EU-Parlament an, dass die Kommission davon absehe, einen Vorschlag zur 'verbindlichen Verteilung' von Flüchtlingen einzubringen. ... Auf dem EU-Gipfel in Bratislava machte später auch Angela Merkel deutlich, dass es keine Flüchtlingsquote geben wird. … Deshalb hat die Volksabstimmung nunmehr keinerlei Sinn. ... Schon immer war die Verteilung von Flüchtlingen auf die einzelnen EU-Staaten bloß eine Idee. Und diese Idee ist nun gestorben. ... Deshalb sind weitere Ausgaben von Steuergeldern für das Referendum überflüssig. Die Volksabstimmung sollte schleunigst abgesagt werden.“
Orbán könnte auch verlieren
Zwar scheinen die Gegner der Migration klar in der Überzahl, doch das Referendum kann auch zu einer Ohrfeige für Premier Viktor Orbán werden, orakelt Mladá fronta dnes:
„Die Abstimmung sieht wie eine aus, die man unmöglich verlieren kann. Schon allein die Fragestellung über verbindliche Quoten für die Verteilung von Migranten ist so formuliert, dass jeder normale Mensch eines souveränen Landes sie eindeutig beantworten müsste. ... Dennoch kann der Premier das Referendum verlieren. Für die Gültigkeit müssen mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne gehen. Und das ist keineswegs sicher. Trotz einer gewaltigen Kampagne auf den Straßen und in den staatlichen Medien wächst die Zahl der Ungarn nicht, die ihre Stimme abgeben wollen. Sie lag einer jüngsten Umfrage zufolge nur bei 48 Prozent. So schaltete sich Orbán selbst massiv ein und rief die Ungarn zu einer 100-prozentigen Teilnahme auf. Doch womöglich zeigt der Sonntag, dass die Ungarn das Thema doch nicht so quält.“
Nein gegen EU-Quote ist alternativlos
Jeder verantwortungsbewusste Ungar muss bei der Volksabstimmung gegen die EU-Flüchtlingsquote stimmen, meint der regierungsnahe Politologe Tamás Lánczi im Blog Mozgástér:
„Vor anderthalb Jahren hat die Linke die Massenmigration geleugnet. Wir [im Regierungslager] haben diese schon damals erkannt - und haben leider Recht behalten. Später behauptete die Linke, dass die Flüchtlinge allesamt auf Hilfe angewiesen seien. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Mehrzahl Wirtschaftsflüchtlinge sind, sprich Teilnehmer einer neuen Völkerwanderung. Dann hat die Linke beharrlich geleugnet, dass Terroristen unter den Flüchtlingen sind. Auch hier haben wir leider Recht behalten. ... Ich werde deshalb mit 'Nein' stimmen, weil die Massenmigration Europa ganz und gar zu zerstören droht. Und natürlich wird auch diese reale Gefahr von der Linken geleugnet.“
Orbáns Rhetorik ist uneuropäisch
Ungarns Premier Orbán hat gefordert, Flüchtlinge aus Europa abzuschieben und in Lager außerhalb der EU zu sperren. "Alle, die illegal gekommen sind, sollte man einsammeln und wegbringen", sagte er dem ungarischen Onlineportal Origo. Orbán geht entschieden zu weit, entrüstet sich Il Sole 24 Ore:
„Es sind beängstigende Worte. Denn sie werden von einem Regierungschef der EU benutzt. Derselben Union, in der Länder wie Deutschland und Italien in glanzvoller Isolation versuchen, die Partner von der Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen und solidarischen Lösung des Flüchtlingsnotstands zu überzeugen. ... Die nationale Souveränitat, auf die sich Orbán, aber auch die neue polnische Regierung mit allzu großer Leichtfertigkeit berufen, befugt nicht zu extremen Worten und Gesten - schon gar nicht im Namen der christlichen Wurzeln Europas. Ungarn hat schon eine Mauer an seinen Grenzen errichtet. Doch der nationalistischen Rhetorik Worte wie 'Deportation' und 'Einsammeln' hinzuzufügen, kann das Land nur von Europa entfernen.“
Orbán geriert sich als Retter des Christentums
Premier Orbán hat es nicht nur geschafft, binnen kurzer Zeit viele Ungarn gegen Flüchtlinge aufzustacheln, sondern sich gleichzeitig auch zum Heiland des Christentums hochzustilisieren, schimpft die regierungskritische Wochenzeitung Magyar Narancs:
„Orbán und seine Propagandamaschinerie haben erreicht, dass jenes Land, das den Kriegsflüchtlingen vor anderthalb Jahren noch helfen wollte, nun in Angst und Schrecken verharrt. Auch seine jüngsten Strategie-Reden in der Gemeinde Kötcse [wo jährlich die konservative Elite des Landes zusammenkommt] offenbaren, wie Orbán sich selbst sieht. Im letzten Jahr etwa sprach er davon, dass sein Horizont gewachsen sei; er sei nach der Rettung der ungarischen Nation darauf gekommen, dass seine wahre Mission darin liegt, Europa und die christliche Zivilisation zu retten. In diesem Jahr war nur noch die Rettung des Christentums sein Thema. Es hat nur noch gefehlt, dass er sagt: 'Ich bin der Auserwählte!' Das kommt dann nächstes Jahr.“
Premier kann im Referendum nur gewinnen
Orbán feindet gezielt Flüchtlinge und Einwanderer an, weiß er doch, dass er in Ungarn damit auf der sicheren Seite ist und seine Macht weiter ausbauen kann, meint der Analyst Lajos Rakusz in der regierungskritischen Tageszeitung Népszabadság:
„Vor rund zehn Jahren gab es eine Erhebung darüber, wie die Ungarn Einwanderer wahrnehmen. Unter anderem wurden sie zu ihrer Haltung gegenüber einer fiktiven Ethnie, den Piresen, befragt. Mehr als zwei Drittel der Befragten lehnten die Zuwanderung von Piresen damals ab. Die Umfrage ist ein gefundenes Fressen für Orbán. Warum? Weil angesichts der großen Ablehnung von Einwanderern ein Referendum zum Thema Flüchtlinge für Orbán eigentlich nur gut gehen kann. ... Orbán hat in Ungarn eine Atmosphäre der Angst geschaffen. Der Preis der Angst indes ist ein Ausgeliefertsein an die Obrigkeit, die totalen Schutz verspricht. ... Am 2. Oktober entscheiden wir deshalb darüber, ob wir in Freiheit oder in einem autoritären Staat leben wollen.“
Orbán will EU in den Grundfesten erschüttern
Für Premier Viktor Orbán geht es beim Referendum über die Flüchtlingsquoten um mehr als seinen eigenen Machterhalt in Ungarn, beobachtet die Tageszeitung Magyar Nemzet:
„Warum setzt die Regierung auf totale Mobilisierung, so als hinge ihr Leben davon ab? ... Warum hat es den Anschein, als würde sie beim Referendum alles auf eine Karte setzen? ... Die zu erwartende große Zahl an 'Nein'-Stimmen ist nicht genug. Für die Regierung ist es eminent wichtig, dass das Referendum auch gültig ist. Dazu müssen vier Millionen Wähler abstimmen. ... Orbán geht offenbar aufs Ganze. Ihm geht es vor allem um die Beschaffenheit und Ausrichtung des künftigen Europa und die Rolle Ungarns darin. Obendrein will er sein eigenes politisches Gewicht in Europa stärken. Der Premier will mit dem Referendum am 2. Oktober einen Meilenstein setzen und damit die EU in ihren Grundfesten erschüttern.“
Einwanderungsfreunde werden es schwer haben
Das zu erwartende Nein der ungarischen Wähler zur Flüchtlingsquote könnten die EU in der Einwanderungspolitik zu einem Umdenken bewegen, meint Politologe Tamás Lánczi auf Mozgástér:
„Im Gegensatz zu vielen anderen Analysten bin ich der Meinung, dass das Referendum vor allem in einem außenpolitischen Kontext betrachtet werden sollte. ... Im Ausland wird man weniger die Gültigkeit der Volksabstimmung [50 Prozent der Wahlberechtigten plus eine Stimme] im Blick haben als vielmehr die Zahl derjenigen, die den Standpunkt Orbáns teilen. Je größer die Unterstützung für Orbán ist, desto schwieriger werden sich die Verhandlungen für die einwanderungsfreundlichen europäischen Politiker gestalten. Politische Macht begründet sich nicht durch Regelungen, sondern durch die Unterstützung der Wähler. Orbán hat das früh erkannt, den westeuropäischen Politikern geht diesbezüglich erst jetzt allmählich ein Licht auf.“
Gefährlicher Präzedenzfall
Mit dem Referendum über Flüchtlingsquoten versucht Budapest einen rechtlich bindenden EU-Beschluss zu umgehen, kritisiert Adelina Marini im Blog euinside und fürchtet das nahe Ende der Union:
„Der Ausgang des Referendums wird nicht automatisch Ungarn aus der Pflicht entlassen, Flüchtlinge aufzunehmen. Er wird aber mit Sicherheit mehr noch als der Brexit das europäische Projekt untergraben, das auf gemeinsamen Werten und Regeln beruht. Diese Regeln werden immer häufiger gebrochen und die EU-Kommission unterstützt dies sogar durch ständige Ausnahmen und Zugeständnisse, die sie den EU-Defizitsündern gewährt. Wenn das ungarische Referendum zum Erfolg wird, könnte es aller Kritik zum Trotz weitere Mitgliedsländer zu Referenden gegen die EU-Gesetzgebung animieren, weil nationale Politiker sie als schädlich für die nationalen Interessen ihrer Länder ansehen. Damit würde praktisch das Ende der EU eingeleitet.“
Linke kann Orbán nichts entgegensetzen
Ungarns linke Opposition ist mit Blick auf das Referendum über die EU-Flüchtlingsverteilung völlig uneins, spottet der Publizist Zsigmond Péterfy auf dem Meinungsportal Mandiner:
„Die linke Opposition ist wieder einmal daran gescheitert, eine einheitliche Antwort auf die Referendumsfrage zu geben. Gibt es jemanden in diesem Land, der aus dem Kopf sagen kann, welchen Standpunkt die Linke vertritt? Wir versuchen es einmal: Wenn wir es richtig verstehen, dann lehnen die Sozialisten [MSZP] die EU-Quotenregelung ab, sie lehnen aber auch das Referendum ab. Die Demokratische Koalition [DK] ruft derweil zum Boykott des Referendums auf. Die Liberalen sagen, dass man zur Wahl gehen und für die Flüchtlingsverteilung stimmen soll und die Grünen überlassen die Entscheidung einfach ihren Wählern. Und diese Linke will Orbán und den Fidesz bei der Parlamentswahl 2018 geschlossen besiegen?“
Regierung manipuliert mit Angstmache
Mit Blick auf das Referendum am 2. Oktober haben Manipulationen der Regierung über die staatliche Nachrichtenagentur MTI bereits begonnen, warnt der Kommentator András Jámbor auf dem Blogportal Kettős Mérce:
„Der ungarische Botschafter in Nigeria, ein Politiker der Regierungspartei Fidesz, wurde kürzlich auf MTI mit den Worten zitiert, dass die Flüchtlinge furchtbare Viren nach Europa einschleppen würden. Mehr noch, mit der Flüchtlingsflut gerieten nicht nur ansteckende, sondern auch 'genetische Krankheiten' nach Europa, die es in Ungarn noch gar nicht gebe. ... Es ist lächerlich, vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise solche Angstmache zu betreiben. Oder nein, es ist vielmehr erschreckend. Der Botschafter, der nebenbei Arzt ist, sollte über die Verbreitung dieser Krankheiten doch Bescheid wissen. Und er sollte wissen, dass aus Nigeria kaum Flüchtlinge nach Ungarn kommen. Der Redakteur von MTI wiederum war offenbar darauf aus, Schreckensnachrichten und damit Angst zu verbreiten.“
Öffentlichkeit ist geschlossen gegen Flüchtlinge
Wer glaubt, die ungarische Opposition werde für die Flüchtlingsverteilung votieren, der hat sich geschnitten, macht der Politologe Zoltán Lakner in Népszabadság aufmerksam:
„Dank der Ausschlachtung von Ängsten in Zusammenhang mit der Flüchtlingswelle genießt die Regierung wieder große Popularität. Gemäß einer aktuellen Umfrage war die Fremdenfeindlichkeit in Ungarn noch nie so hoch. Mehr noch, aus einer internationalen Erhebung geht hervor, dass die Mehrheit der Ungarn mehr Vertrauen zu Putin als zu Merkel haben. Ja, es gibt sogar eine Studie, wonach die Mehrheit der Sympathisanten der linksliberalen Opposition gegen die EU-Flüchtlingsverteilung ist. Ganz nach dem Geschmack der Regierung. Viele Anhänger der Opposition stimmen mit Orbán in der Flüchtlingsfrage völlig überein, sprich sie wollen keine Einwanderer in Ungarn haben.“
EU braucht endlich Migrationsgesetze
Die Ungarn waren von Beginn an gegen die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU, erinnert Dnevnik und fordert, Budapest mit Hilfe von Gesetzen auf Linie zu bringen:
„Jetzt, wo man vorsichtig von einer neuen Flüchtlingswelle spricht, wäre es gut zu wissen, worauf die europäische Migrationspolitik basiert. Die EU ist nicht auf Werten und Prinzipien aufgebaut, sondern auf Gesetzen. Die Schlüsselfrage lautet nicht, ob das, was einzelne EU-Staaten tun, im Einklang mit Europas Werten ist, sondern ob dies im Einklang mit den Gesetzen ist, die die Union regeln. Wenn es solche Gesetze nicht gibt, müssen sie schnell geschrieben werden.“
Wie das Referendum sabotiert werden kann
Die zahlreichen Kritiker der Volksabstimmung sollten zwar an der Abstimmung teilnehmen, jedoch einen ungültigen Stimmzettel abgeben, fordert Népszava:
„Was soll der ungarische Bürger in seiner Verwirrung tun, um eine Frage zu beantworten, die von der EU so niemals gestellt wurde? In solch einem Fall ist keine Antwort die beste Antwort. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht abstimmen soll, denn wer zu Hause bleibt, unterstützt mit seiner Passivität die dumme Frage der Regierung, werden doch diejenigen, die teilnehmen und gegen die Flüchtlingsverteilung stimmen, in der Mehrheit sein. Was Orbán als Sieg verkaufen würde, selbst wenn das Referendum wegen mangelnder Beteiligung ungültig wäre. … Jeder soll also abstimmen gehen und auf den Stimmzettel ein großes Fragezeichen kritzeln. So kommt er seiner staatsbürgerlichen Pflicht nach und lässt sich obendrein nicht für dumm verkaufen.“
Ungarn ist Zuwanderer nicht gewöhnt
Die im Westen übertrieben anmutenden Ängste der Ungarn vor Einwanderern haben wohl damit zu tun, dass das Land mit einem massenhaften Zustrom von Migranten niemals konfrontiert war, analysiert der Politologe Ervin Csizmadia in Magyar Nemzet:
„In der Region Ostmitteleuropa hat sich das Problem der Einwanderung im Laufe der Geschichte niemals in der Form gestellt wie in Westeuropa. Diese Region hatte beispielsweise niemals Kolonien und daher auch keine nennenswerte Zuwanderung, folglich hat die ungarische Gesellschaft wenig Ahnung davon, wie mit einem plötzlichen Zustrom von Flüchtlingsmassen umzugehen ist. Freilich, es wäre gut, wenn die ungarische Gesellschaft sich ebenso verhalten würde wie die westlichen, sprich 'tolerant' und 'human'. ... Nur haben auch die westlichen Gesellschaften über lange Jahrhunderte lernen müssen, wie sie mit Einwanderern umzugehen haben.“
Orbán will Volk hinter sich bringen
Das ungarische Referendum ist mitnichten eine Abstimmung über den Verbleib des Landes in der EU, sondern ein Instrument zur Legitimierung der Regierungspolitik, hält der Politologe Tamás Lánczi den Kritikern von Premier Orbán im Blog Mozgástér entgegen:
„Böse Zungen behaupten, dass ein Referendum insofern gefährlich wäre, als Ungarn damit aus der EU driften würde. Dies wäre dann richtig, wenn die Regierung die Abstimmung über die Quotenregelung mit einem Votum über die Union gleichgesetzt hätte. ... Ich gehe davon aus, dass die Regierung die entsprechenden Umfragen kennt, wonach die überwältigende Mehrheit der Magyaren in der EU bleiben will. Selbst wenn es die Absicht der Regierung wäre auszutreten, stünde sie auf verlorenem Posten. ... Referenden sind vor allem präventive Instrumente, um zu verhindern, dass die Bürger das Gefühl haben, es werde über ihre Köpfe hinweg entschieden. ... Es kommt nicht von ungefähr, dass Referenden abgehalten werden, haben sie doch die größte Legitimationskraft.“
Ohne Flüchtlinge keine EU-Mitgliedschaft
Sollte die Mehrheit der Ungarn im Referendum gegen die Flüchtlingsaufnahme stimmen, muss Budapest die Konsequenzen ziehen und aus der EU austreten, fordert Público:
„Ungarn müsste nach dem EU-Mechanismus zur Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen gerade einmal 1.294 Menschen aufnehmen, die sich derzeit in Griechenland und Italien aufhalten. Eine fast lächerliche Zahl für ein Zehn-Millionen-Land. Dank der aggressiven Kampagne Orbáns ist es wahrscheinlich, dass das Nein gewinnen wird. Falls das eintrifft, dann sollte Ungarn zumindest so konsequent sein, wie es Großbritannien war: Man kann nicht zu einer Union gehören wollen und sich nur jene Aspekte aussuchen, die einem gerade so passen - und den Rest einfach verwerfen. Und in diesem Falle wird dieser 'Rest' Solidarität genannt!“
Referendum macht keinen Sinn
Das ungarische Referendum über die EU-Flüchtlingsquoten ist nichts als Populismus, ärgert sich der Publizist András Stumpf auf dem Meinungsportal Mandiner:
„Welche Konsequenzen hat ein Referendum, wenn es gültig und erfolgreich ist? Das Parlament schafft ein Gesetz, das dem Volkswillen entspricht. Wer also ist an das Ergebnis eines Referendums gebunden? Das ungarische Parlament. Niemand anders. Brüssel schon gar nicht. Die Situation verhält sich aber gerade so, dass die Regierungsvertreter im Parlament selbstredend in der Mehrheit sind. Diese könnten nach Belieben Gesetze verabschieden, etwa solche: Brüssel darf uns nicht dreinreden, wer kommt und wer nicht. Der Standpunkt der Regierungsparteien ist bekannt, sie wollen keine 'Zwangseinbürgerung' von Flüchtlingen. Die große Mehrheit des Volkes ist laut Erhebungen ebenso dagegen. Fazit: Das Referendum ist völlig unnötig.“
Antieuropäer im Windschatten des Brexit-Votums
Schlicht für eine Frechheit hält El Mundo das Referendum in Ungarn:
„Man müsste in Budapest klar stellen, dass eine derartige Verletzung der Spielregeln Folgen haben wird. Das Ergebnis des Referendums wird nichts verändern, weil hier über ein Thema abgestimmt wird, für das einzig Brüssel zuständig ist. Der Europäische Gerichtshof könnte jede Entscheidung revidieren, die sich gegen mit der EU eingegangene Verpflichtungen richtet. ... Im Windschatten des Brexit versuchen plötzlich alle ultranationalistischen Populisten, Antieuropäer und Rassisten Jahrzehnte gemeinschaftlicher Brüderlichkeit und diplomatischer Abkommen durch demagogisch überfrachtete Volksbefragungen zu ersetzen. ... Das Referendum wird am 2. Oktober mit der Wiederholung der Wahl des Bundespräsidenten in Österreich zusammen fallen, bei der die Rechtsextremisten gewinnen könnten. Der europäische Traum steht auf dem Spiel. Wir sollten aufpassen, dass er nicht zum Albtraum wird.“
Flüchtlingskrise dank Orbán wieder Thema
Bei aller Kritik - Premier Orbán bringt ein drängendes Thema wieder ins Gespräch, findet Der Standard:
„Dankbar muss man ihm aber auch außerhalb Ungarns sein - dafür, dass er das Flüchtlingsthema wieder aufs Tapet bringt, das wegen Brexit, Anschlägen in der Türkei und hierzulande wegen einer Wahlwiederholung fast schon in der Versenkung verschwunden ist. Vom UNHCR wurden zuletzt wieder leicht steigende Zahlen auf der Balkanroute gemeldet. Und in Italien wurden im ersten Halbjahr 2016 mit 70.930 Flüchtlingen nur unwesentlich weniger Ankünfte registriert als im Rekordjahr 2015. Noch könne man alle versorgen, heißt es seitens der Regierung in Rom. Noch.“
Endlich wieder Chef im eigenen Land sein
Das Referendum in Ungarn ist eine weiterer Schritt zu mehr nationaler Souveränität der europäischen Staaten, findet die konservative Dimokratia:
„All jenen, die den Auflösungsprozess der starren supranationalen Struktur beobachten, die Europäische Union genannt wird, ist klar, dass dieser auch auf eine Kaste von Deutschen wie Herrn Schäuble zurückzuführen ist. ... Das ungarische Referendum ist ein wichtiges Kapitel in Europas Geschichte der Befreiung aus den Fesseln der deutschen Hegemonie. ... Das griechische Abenteuer, die mangelnde demokratische Legitimation der EU-Institutionen, der Brexit und die starre Haltung von Berlin haben Millionen Europäer zum Nachdenken gebracht. Sie wollen wieder die Herren in ihrem eigenen Land werden und diejenigen sein, die zusammen mit den gewählten Vertretern des Landes ihr Schicksal bestimmen. Nach dem Referendum könnten weitere stattfinden. Die Emanzipation der Länder und Völker ist nah.“
Anders als Merkel fragt Orbán sein Volk
Im Gegensatz zu Premier Viktor Orbán haben sich westliche Regierungschefs, wie jene Deutschlands und Österreichs, keine Legitimation vom Souverän geholt, macht der Politologe Péter Farkas Zárug in der konservativen Wochenzeitung Demokrata aufmerksam:
„Alle kritisierten Orbán, er sei kein Europäer, kein Christ und natürlich auch kein Liberaler. Er wurde kritisiert, weil er zum Schutz seines Volkes einen Grenzzaun errichten ließ, zum Schutz jenes Volkes, das ausdrücklich erklärt hat, dass es dauerhaft keine muslimischen Migranten im Land haben und versorgen will. Doch hat Merkel die Deutschen, Faymann die Österreicher oder Hollande die Franzosen befragt, ob sie muslimische Flüchtlinge aufnehmen wollen? Nein! Keiner der westeuropäischen Entscheidungsträger hat jemals einen diesbezüglichen Auftrag vom Volk bekommen. Somit ist ihre Flüchtlingspolitik nicht legitimiert.“
Nur Referendum kann Islamisierung verhindern
Die Ungarn zeigen, wie man es macht, findet das nationalkonservative Nachrichtenmagazin wSieci und fordert eine Volksabstimmung auch für Polen:
„Wir sollten Orbán folgen und auch in Polen ein Referendum über die Aufnahme von Flüchtlingen organisieren. Denn eigentlich ist derzeit nichts wichtiger als der Schutz Europas und unseres Landes vor der faktischen Islamisierung, die perspektivisch gesehen in einer oder zwei Generationen stattfinden dürfte. Zudem sind wir in ganz Europa leider nicht in der Lage, uns vor der verrückten Politik der linken Ideologen zu schützen. Wir müssen deswegen alle Möglichkeiten ausschöpfen, die wir haben, um Polen zu schützen. Sollte Brüssel in dieser Frage Druck ausüben, würde ein klares 'Nein' für die massenhafte Immigration von Flüchtlingen auch der PiS-Regierung den Rücken stärken.“
Orbán attackiert Europas Grundwerte
Als Missbrauch demokratischer Prinzipien sieht die liberale Tageszeitung Jutarnji list das geplante Referendum und ärgert sich über den dahintersteckenden Egoismus:
„Der Ausgang des Referendums ergibt sich schon aus der Fragestellung. Was soll man auch auf die Frage 'Wollen Sie, dass Ihnen jemand etwas gegen Ihren Willen aufzwingt?' anderes antworten als 'Nein'? Und in genau diesem Stil wird wohl die Frage lauten, auf die das ungarische Volk antworten soll. ... Ein Volksentscheid ist eine demokratische Willenserklärung eines Volkes, das ist richtig - aber hier ist er auch ein Mittel des Missbrauchs. Bei ihrem Eintritt in die EU erklärten Ungarn, Slowaken, Polen und andere, dass sie nun einer Familie beitreten, mit der sie die gleichen Grundwerte teilen. Jetzt fordern sie die Anerkennung ihrer Andersartigkeit und die Wahrung ihrer Identität. Mit diesem inszenierten Volksentscheid greift Orbán die Grundlage der EU an - die Solidarität.“
Von der EU bleibt bald nichts mehr übrig
Dass die EU schon bald nicht mehr wiederzuerkennen sein wird, fürchtet angesichts der Pläne Budapests die liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza:
„Das Ergebnis des Referendums ist von vornherein klar. Genauso gut könnte die Regierung die Bürger auch fragen, ob sie ewig schön und jung bleiben wollen. ... Dieses Referendum soll das Bild von Orbán als Staatsmann untermauern, der sich um die Sicherheit seiner Landsleute sorgt. Möglicherweise gelingt es ihm, dieses Image bis 2018 aufrechtzuerhalten, wenn im Land die nächsten Parlamentswahlen abgehalten werden, die er mit Sicherheit wieder gewinnen will. Wie zu diesem Zeitpunkt allerdings die EU aussehen wird, ist ungewiss. Die Flüchtlingskrise könnte sie unwiderruflich verändert haben. Das Auseinanderfallen des Schengenraums wird derzeit immer wahrscheinlicher. Und dazu könnten auch die ostmitteleuropäischen Länder beitragen, die in der Flüchtlingsfrage keine Verantwortung übernehmen wollen.“