UN-Migrationsabkommen wackelt
Am 10. und 11. Dezember trifft sich die Staatengemeinschaft in Marrakesch, um den UN-Migrationspakt zu unterzeichnen. Doch fast täglich melden Länder, dass sie nicht mitmachen wollen - neben mehreren osteuropäischen EU-Ländern und Österreich nun auch Italien. Das rechtlich nicht bindende Abkommen soll helfen, Flucht und Migration in geordnete Bahnen zu lenken. Warum trifft es auf so viel Ablehnung?
Italiens traurige Konsequenz
Italiens Absage an den Migrationspakt passt zu der neuen Flüchtlingspolitik des Landes, beklagt der Brüsseler Korrespondent von La Repubblica, Andrea Bonanni:
„Matteo Salvini ist konsequent, wenn er beschließt, dass Italien das Dokument der Vereinten Nationen über die Bewältigung des Migrationsphänomens nicht unterzeichnen sollte. ... Es ist konsequent, denn dieser 34-seitige Text, den der Rest der Welt auch ohne Italien unterzeichnen wird, steht im Widerspruch zu allem, was die Regierung Lega-Cinquestelle im Bereich der Migration unternommen hat, einschließlich des gerade im Parlament verabschiedeten Sicherheitsdekrets. ... Die Regierung stellt sich natürlich hinter Salvini und passt sich damit voll und ganz der reaktionären und populistischen Internationale an, die von Trump angeführt wird und in der sich die Polen, Ungarn, Österreicher und Slowaken verbrüdert haben.“
So lockt man Migranten an
Warum die Schweiz den Pakt keinesfalls unterzeichnen sollte, erklärt die Neue Zürcher Zeitung:
„Damit der Pakt kein Papiertiger bleibt, müssten also wohl Gesetze angepasst werden, auch wenn eine Analyse des Bundes zum gegenteiligen Schluss kommt. Zumindest wären entsprechende Forderungen von linker Seite und internationaler Druck so sicher wie das Amen in der Kirche. Klar ist, dass die Ausschaffung von minderjährigen Migranten zu verbieten wäre. Unklare Formulierungen im Sozialbereich, beim Familiennachzug und bei der Staatsbürgerschaft sind Steilpässe für weitere gesetzliche Forderungen. ... Dass dieser Pakt die Migrationsströme verkleinert, ist unwahrscheinlich. Viel eher werden die Zielländer für Migranten attraktiver. Mit unabsehbaren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Dieses Experiment darf die Schweiz nicht wagen.“
Multilateralismus auf dem Prüfstand
Dem parallel zum UN-Migrationspakt ausgehandelten UN-Flüchtlingspakt droht ein ähnliches Schicksal, erwartet Der Standard:
„Aufgrund ... [der] allgemein gehaltenen Formulierungen ist der Interpretationsspielraum groß - sprich, jeder kann das so sehen, wie er das zu seinem Zweck sehen will. Das führt zu Kritik, oft mit irrationalen Argumenten. Auch die festgelegte Unverbindlichkeit wird angezweifelt, mit dem Hinweis, dass daraus ja Gewohnheitsrecht werden könnte. Das schließen nicht alle, aber viele Experten aus. Beim Migrationspakt sind Österreich und andere Staaten ausgestiegen. Beim parallel ausgehandelten Flüchtlingspakt macht Wien mit. Auch an diesem Abkommen wird sich zeigen, wie es heute um den Multilateralismus bestellt ist.“
Immer mehr Deserteure
Auch Italiens Innenminister Salvini hat sich gegen den UN-Migrationspakt ausgesprochen. Die Entscheidung darüber solle aber das Parlament fällen. Mit Salvinis Absage befindet sich Italien in bester Gesellschaft, höhnt Huffington Post Italia:
„Die Verhandlungen über das UN-Abkommen für eine 'sichere, geordnete und reguläre Migration' wurden aufgenommen, als Barack Obama noch im Weißen Haus war. Im vergangenen Jahr waren die USA unter Trump die ersten, die austraten. Und je näher der Gipfel von Marrakesch rückt, umso länger wird die Liste der Deserteure. Nun gesellt sich auch Italien zu diesem 'Club' von Ländern, die bis gestern noch keine strategischen Partner waren. Verbündete sind sie nur, wenn es darum geht, Mauern gegen Migranten zu errichten. Gegner aber, wenn es um Solidarität mit einem Grenzstaat wie Italien geht, der den Migrationsströmen des Mittelmeers ausgesetzt ist.“
Beispiel USA zeigt: Der Pakt ist falsch
In den Ereignissen an der mexikanisch-amerikanischen Grenze sieht das regierungsnahe Onlineportal Origo den Beweis, dass Abschreckung die einzig richtige Migrationspolitik ist:
„Die Migranten-Karawane hat die amerikanische Grenze angegriffen und nur dem entschiedenen Auftreten der Beamten ist es zu verdanken, dass es keinem gelungen ist, illegal auf US-Gebiet zu gelangen. ... Die linksliberale Seite lügt, wenn sie behauptet, es handele sich bei den Mitgliedern der Migranten-Karawane um Flüchtlinge. Diese haben selbst zugegeben, dass sie keine Flüchtlinge sind, sondern nur in der Hoffnung auf ein besseres Leben illegal in die USA gelangen wollen. Die Geschehnisse an der Grenze zeigen deutlich, warum der UN-Migrationspakt abgelehnt werden muss.“
Und wieder werden die Gräben tiefer
Die Wochenzeitung Demokracija sieht in dem Pakt Sprengstoff für Europa:
„Der Migrationspakt von Marrakesch hat die EU erneut gespalten, ähnlich wie die Forderung nach einer 'gerechten' Verteilung der Migranten innerhalb der Mitgliedsstaaten. Gegen den Pakt sind Ungarn, Tschechien, Polen, Bulgarien, Österreich, Italien, Estland, Australien, Russland, die USA, Israel und jetzt auch die Schweiz, wo man abwarten möchte, wie die anderen Länder reagieren. Der Pakt von Marrakesch ist also noch lange kein globaler Pakt. Er ist die Quelle eines neuen Zerwürfnisses innerhalb der EU.“
Unwahrheiten bestimmen die Debatte
Der Abgeordnete der estnischen Partei Eesti Konservatiivne Rahvaerakond Jaak Madisson hat sich vehement gegen den UN-Migrationspakt ausgesprochen. Eesti Päevaleht unterzieht seine Behauptungen einem Faktencheck:
„Madisson zitiert den Abschnitt, der besagt, dass sich die Staaten verpflichten, jegliche Diskriminierung zu eliminieren, rassistische, diskriminierende und gewaltsame Ausdrucksweisen und Taten gegen Immigranten zu verurteilen und mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen sie zu kämpfen. Er behauptet, es sei eine Pflicht, Medien zu zensieren. ... Es handelt sich um den Paragraphen 17, der die ethischen Standards der Migrationsberichterstattung behandelt. Er besagt, dass Medien, die Xenophobie, Rassismus und Intoleranz propagieren, vom Staat keine Finanzierung erhalten sollten, dass jedoch die Medienfreiheit vollständig respektiert werden soll. Also verpflichtet der Pakt nicht zur Zensur.“
Falsche Prioritäten
Dass der UN-Migrationspakt nicht ganz klar signalisiert, dass illegale Einwanderung nicht geduldet wird, ist ein gravierender Fehler, meint Kolumnistin Clare Foges in The Times:
„Wenn Menschen den Eindruck haben, dass die Grenzen ihrer Länder wenig bedeuten, dann verhärtet sich ihre Einstellung gegenüber berechtigten Asylbewerbern. … Wenn wir verhindern wollen, dass die politischen Extremisten noch mehr Zulauf erhalten, müssen wir sicherstellen, dass unsere Grenzen dicht sind. Die breite Öffentlichkeit wird legale Zuwanderung nur dann weiter dulden, wenn wir kompromisslos gegen illegale Zuwanderung vorgehen. Und wir werden berechtigten Asylbewerbern nur dann wirklich helfen, wenn wir junge Männer nicht dazu ermutigen, über Meere und Kontinente zu reisen, um die mit Gold gepflasterten Straßen des Westens zu erreichen.“
Verheerende Vorgehensweise
Dass der Migrationspakt weitgehend an der Öffentlichkeit vorbei beschlossen werden sollte, bemängelt Die Welt:
„Das ist - gerade in dieser Frage und gerade in diesen Zeiten - eine verheerende Vorgehensweise. Der Deutsche Bundestag hätte guten Grund gehabt, sich ausführlich mit ihm zu befassen. Und wir Angehörige des deutenden Gewerbes haben durch unsere Nichtbefassung mit dem Thema auch nicht gerade geglänzt. Wenn man doch weiß, wie heikel das Thema Einwanderung heute ist, dürfte das nicht passieren. Es sollte jetzt eine breite Debatte geführt werden.“
Medien müssen Lügenkampagnen kontern
Die Debatte um den Migrationspakt zeigt, wie wichtig die Rolle unabhängiger Medien geworden ist, glaubt Der Standard:
„Falschbehauptungen, wie 'Grenzen werden abgeschafft' oder 'millionenfache Einwanderung' aus Afrika stünde nun bevor, wurden auf rechtsextremen Verschwörungsseiten und auch in Medien, die der FPÖ oder der AfD nahestehen, verbreitet. Dass der Migrationspakt lediglich eine Absichtserklärung ist und seine Ablehnung nicht 'Österreichs Souveränität rettet', wie die Bundesregierung nun erklärt, haben jene Menschen, die FPÖ-nahe und rechtspopulistische Seiten liken, nicht erfahren; und jene Menschen, die diese Medien nicht lesen, haben es relativ spät erfahren. Die FPÖ nutzt auch als regierende Partei das Zusammenspiel zwischen sozialen Medien, dem Boulevard und den parteieigenen Kanälen sehr geschickt, um die angeblichen 'Wahrheiten, die Systemmedien verschweigen' zu verbreiten.“
Schweiz sollte sich an Lösungen beteiligen
Auch in der Schweiz gibt es eine Diskussion darüber, ob der Migrationspakt unterschrieben werden sollte oder nicht. Der Tages-Anzeiger erklärt, warum er für die Unterschrift ist:
„Der Pakt hat Mängel, doch unter dem Strich spricht nichts dagegen, ihn zu unterzeichnen. Mit einem Abseitsstehen zöge die Schweiz mit Ländern wie den USA, Ungarn oder Österreich gleich, wo Kanzler Sebastian Kurz unter Druck der rechtspopulistischen Koalitionspartnerin FPÖ agiert. Es ist nicht blauäugig, sich der Negativspirale eines migrationspolitischen Wettlaufs nach unten zu entziehen und stattdessen bei der Suche nach einer Lösung für ein globales Problem mitzuwirken. Die Schweiz ist nicht nur das Land, in dem internationale Vereinbarungen erst einmal kritisch hinterfragt werden. Sondern vor allem auch das Land, in dem Henry Dunant das Rote Kreuz gegründet hat.“
Populisten werden ihrem Namen gerecht
Mit ihrem zuwanderungskritischen Kurs setzen die Regierungen in Österreich und anderen europäischen Ländern ihre Wahlversprechen in die Tat um, verteidigt Irish Examiner die Abkehr vom Migrationspakt:
„Bundeskanzler Sebastian Kurz sieht den Migrationspakt als Bedrohung für die nationale Souveränität seines Landes. Was in den Debatten über den Zeitgeist oftmals übersehen wird, ist, dass populistische Regierungen und radikale Parteien dieser Art schlicht und einfach 'populär' sind, wenn man es mit einem Wort beschreiben will. Der Name ist Programm. Ob es einem gefällt oder nicht, diese Regierungen und Parteien sind in freien und fairen Urnengängen gewählt worden. Kanzler Kurz setzt das um, was er seinen Wählern versprochen hat.“
Ein Pakt von abgehobenen Eliten
Migration wird von weiten Teilen der Wählerschaft nicht mehr als selbstverständlich angesehen und deshalb ist der UN-Migrationspakt ein weiteres Indiz dafür, wie weit sich die Eliten von der Bevölkerung entfernt haben, findet auch die Neue Zürcher Zeitung:
„Die Kontrolle oder gar Ablehnung der Einwanderung, die Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von Migration sind Anliegen, die von starken Wählerschichten getragen werden. Sie haben politischen Parteien wie der AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich, der SVP in der Schweiz oder auch Präsident Trump in den USA zum politischen Aufstieg verholfen. Es ist der unselige ignorante Geist hinter dem Migrationspakt, der ihn politisch brisant macht. Dass das den Autoren nicht aufgefallen ist, bestätigt nur wieder das oft hervorgebrachte Argument der Abgehobenheit der Eliten - und stärkt dieselben politischen Protestbewegungen.“
Migration kann nur gemeinsam bewältigt werden
Dem Tageblatt zufolge ist der Migrationspakt erst einmal nur die Anerkennung der Wirklichkeit:
„Ja, es gibt Migration, es hat sie immer schon gegeben und es wird sie auch weiterhin geben - wie stellen wir uns also an (wohlwissend, dass Fragen der Migration nur gemeinsam und nie von einem Staat alleine beantwortet werden können), damit diese Menschen einen minimalen Schutz genießen? ... Betroffen sind vor allem afrikanische und asiatische Länder, die den Pakt dementsprechend umso dringender brauchen. Er ist in dem Sinne auch eine Anerkennung der Lasten, die auf diesen Staaten liegen. Dem Pakt die Unterzeichnung zu verweigern, ist demnach auch eine Botschaft an diese Staaten: Eure Probleme gehen uns nichts an!“
Globalisierung heißt auch globale Mobilität
Die österreichische Regierung drückt sich vor jeder Diskussion über Migration und bleibt die Antwort schuldig, was legale Zuwanderung in der globalisierten Welt bedeutet, klagt der Kurier:
„Dass die Regierung jetzt den globalen Uno-Migrationspakt zurückweist, basiert weder auf Fakten noch auf kluger Politik, sondern auf Ressentiments. Wie kann man von Globalisierung in Wirtschaft und Wissenschaft reden und die globale Migration von Menschen verschiedenster Berufe und Schichten nicht beachten? Die Geschichte zeigt, dass die Welt immer von Migration profitiert hat. Ein Konzept legaler Migration hat die Regierung leider noch nicht vorgelegt. Das wäre populär.“
Beruhigungspille für migrationskritische Wähler
Wien setzt das Thema Migration bewusst wieder auf die Agenda, meint Polityka:
„Die neuen Positionen Budapests und Warschaus und der Widerstand aus Wien sind weitgehend auf den Wahlkalender zurückzuführen. Diese Entscheidungen fallen geschickt in die Zeit der sich anbahnenden Kampagnen für die Wahlen zum Europäischen Parlament, die Ende Mai in allen EU-Ländern stattfinden werden. Der Rückzug aus der Vereinbarung ermöglicht den Regierungschefs, das Thema Migration erneut in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte zu setzen und jene Wähler zu beruhigen, die gegen Einwanderung sind.“
Die Heilige Allianz der Abschottung
Italien muss also doch keine Isolation fürchten, meint der Brüssel-Korrespondent von La Stampa, Stefano Stefanini, sarkastisch:
„Das Italien von Lega und M5S mag zwar einen Haushaltsstreit mit Brüssel führen, findet dafür aber anderswo Terrain für eine gemeinsame Politik. Auf Kosten der Migranten, die jetzt zum Klebstoff einer neuen 'Heiligen Allianz' geworden sind - mit Wien im Zentrum. ... Die Gruppe der EU-Länder im Donauraum hat beschlossen, dass Migranten nicht durchgelassen werden und dass diejenigen, die bereits die Grenzen überschritten haben, mit ein paar Tritten in den Hintern hinausgeworfen werden können. ... Voller Eifer schließt sich Italien nun dieser Koalition 'es-gut-meinender' Länder an. Länder, die sich immer geweigert haben, die Verantwortung für die Einwanderung zu teilen, indem sie sie auf Erstankunftsländer wie Italien abwälzten.“