Kompromiss in Brüssel: Weiß die EU, was sie will?
Nach einem viertägigen Verhandlungsmarathon brachte der EU-Gipfel ein Ergebnis: Von den 750 Milliarden Euro für den Corona-Wiederaufbau fließen nur 390 statt 500 Milliarden als Zuschüsse, der Rest als Kredite. Zahlungen aus dem EU-Haushalt werden weiterhin nur lose an Rechtsstaatskriterien gekoppelt. Hinter all den Kompromissen erkennen Kommentatoren jedoch teils eindeutige Richtungsentscheidungen.
Durchbruch für Umwelt- und Klimaschutz
Der Ökonom Simone Tagliapietra sieht ein klares Bekenntnis zum Umweltschutz. Er schreibt in Le Monde:
„Die 1.800 Milliarden stellen nicht nur einen ambitionierten Wiederaufbauplan dar - sondern auch den ökologischsten Wiederaufbauplan weltweit. Die europäischen Regierenden haben das Ziel formuliert, 30 Prozent der EU-Ausgaben für das Klima aufzuwenden. Das bedeutet, dass zwischen 2021 und 2027 auf dem gesamten Kontinent insgesamt rund 547 Milliarden Euro EU-Gelder für die Ökowende zur Verfügung gestellt werden. Diese Summe ist absolut bedeutsam. Sie macht etwa ein Viertel der Investitionen aus, die nötig sind, um die Ziele des europäischen Green Deals zu verfolgen, und kann zusätzliche Investitionen seitens der Regierungen oder der Privatwirtschaft anstoßen.“
Klarer Schritt Richtung Föderalismus
Der Autor Jean-Noël Cuénod analysiert auf seinem Blog bei La Tribune de Genève:
„Wir haben eine supranationale Körperschaft, die in ihrem Namen 750 Milliarden Euro an den Finanzmärkten leiht und an die Mitgliedsstaaten verteilt; ... die Einführung einer EU-Steuer wurde auf den Weg gebracht; die Mitgliedsstaaten müssen gewisse Regeln einhalten, darunter die Achtung der Rechtsstaatlichkeit. Das ist noch kein qualitativer Sprung Richtung Föderalismus, doch die EU nähert sich diesem an. Und es ist bereits ein Stadium erreicht, in dem es recht schwierig wird, das rückgängig zu machen. Früher oder später wird man eine Kompetenzübertragung föderaler Art in Betracht ziehen müssen, damit die Länder Europas über die notwendigen Kräfte verfügen, um den chinesischen, russischen und US-amerikanischen Imperien entgegenzutreten - zumal ihnen letzteres mittlerweile feindlich gesinnt ist (und das nicht erst seit Trump).“
Wasser auf die Mühlen der Rechten
Die Einigung wird langfristig zu sozialen Unruhen führen, mutmaßt lb.ua:
„Gerecht kann man die Situation nicht nennen. Die einen Länder bekommen Schulden aufgebürdet, die ihre Bürger belasten, andere Länder wiederum Rabatte und Vorteile. Das wird Proteste nach sich ziehen und zu einem Anstieg der rechten Kräfte in Europa führen. ... Die Verabschiedung des neuen Haushalts zeigt nur eines: Die Europäer haben selbst den Boden für zukünftige Protestbewegungen, für eine weitere Spaltung der Gemeinschaft und für eine Wende nach rechts bereitet.“
Ein gerechter Kompromiss
Das Ergebnis hat allen etwas zu bieten, erläutert Primorske novice:
„Jeder der 27 EU-Staats- und Regierungschefs konnte zu Hause erläutern, welch ein günstiger Kompromiss ihm gelungen ist. So gaben die Sparsamen bei den Zuschüssen nach, die südlichen Länder erhielten eine große Gesamtsumme an Hilfe, die Visegrád-Gruppe zeigte sich entgegenkommend bei den Forderungen bezüglich der Achtung der Rechtsstaatlichkeit als Bedingung für die Auszahlung der Finanzhilfen. Auch Slowenien hat die Quadratur des Kreises recht gut erreicht, es erhält eine stattliche Summe. Nun hängt es von uns selbst ab, was wir mit diesem Geld machen.“
Unter der Fuchtel der kleinen Bremser
Ganz und gar nicht zufrieden mit dem erreichten Kompromiss ist hingegen Journalist Daniel Oliveira in Expresso:
„Was an diesem Wochenende vereinbart wurde, ist schlimmer als keine Vereinbarung und hätte vom Rat bis auf weiteres blockiert werden müssen. ... Es war ein weiterer Schritt zur Zerstörung des europäischen Projekts. Eines wurde jedoch bewiesen: Vier Länder können Deutschland und Frankreich ihren Willen aufzwingen. Und sie wollen eindeutig viel. Die Niederlande, die bei weitem am meisten vom Binnenmarkt und vom Euro profitieren, haben ein Narrativ konstruiert, welches es der öffentlichen Meinung nicht mehr erlaubt, irgendeine Art von europäischer Solidarität zu akzeptieren. Und sie haben es geschafft, die deutsch-französische Achse zu bezwingen.“
Pyrrhussieg für die Sparsamen Vier
Für den Tages-Anzeiger weist die Einigung einige Defizite auf:
„Etwa, dass die Einigung beim siebenjährigen Haushaltsrahmen in letzter Minute mit Kürzungen ausgerechnet bei der Forschung, Forschungsprogrammen, dem Klimafonds oder der Gesundheit erkauft werden musste. Die Sparsamen Vier, die weniger einzahlen wollten, haben hier einen Pyrrhussieg erzielt. Geschont wurden die alten Politikfelder wie Landwirtschaft oder Strukturfonds, wo noch immer der Grossteil der Mittel hinfliesst, auf Kosten der Investitionen in die Zukunft. Die EU bleibt hier weit hinter ihrem Anspruch zurück. Ein deutliches Indiz für Kehrseiten der Einigung ist auch, dass nach dem Gipfelmarathon auch Ungarns Regierungschef Viktor Orbán und Polens Premier Mateusz Morawiecki sich ebenfalls als Sieger feiern. Der geplante Rechtsstaatsmechanismus ist in den langen Verhandlungsnächten weitgehend entschärft worden.“
EU bleibt reine Wirtschaftsunion
Für diejenigen, die sich Hoffnungen auf einen neuen Integrationsschritt der EU gemacht hatten, ist das Ergebnis ernüchternd, warnt Le Soir:
„Mit seiner Aussage, dass er nicht nach Brüssel gekommen sei, um sich Freunde zu machen und alljährlich zu deren Geburtstag zu kommen, hat der niederländische Premier Mark Rutte die Denkweise zum Ausdruck gebracht, derzufolge wirtschaftlicher Pragmatismus über die Brüderlichkeit zwischen den Völkern oder gar das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft siegt. Was er damit in Erinnerung rufen will: Die in Krisenzeiten nicht zurückzuzahlende Solidarität muss die Ausnahme bleiben und darf nicht zur Regel werden. Es hat sich außerdem gezeigt, dass sich der Widerstand der 'sparsamen' Länder gegen einen Wesenswandel der EU organisieren kann.“
Zu wenig Druck auf Reformverweigerer
Der niederländische Premier Mark Rutte hatte als Anführer der "Sparsamen Vier" darauf gedrängt, dass Empfängerstaaten als Gegenleistung für Zuschüsse zu Reformen gezwungen werden könnten. In der nun beschlossenen Form ist die "Notbremse" aber kein Druckmittel, kritisiert De Telegraaf:
„Von festen Garantien kann nicht die Rede sein. ... Wenn von den vereinbarten Reformen nach Ansicht eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten abgewichen wird, kann die Sache - im äußersten Fall - dem Europäischen Rat vorgelegt werden. Dann müssen sich die Regierungschefs damit befassen. Die EU-Kommission beschließt nicht über die Auszahlung, bis der Europäische Rat die Frage 'erschöpfend' besprochen hat. Das heißt, dass die Auszahlung in besonderen Fällen höchstens eine Weile blockiert werden kann. Das ist als Drohinstrument nicht viel.“
Weißer Rauch mit grauen Schleiern
Der Beschluss ist historisch, freut sich Avvenire, macht aber Abstriche:
„Mit der Annahme des Plans ist ein Damm gebrochen. Doch weitere kleine oder große 'Mauern' wurden zu errichten versucht. Die erste betrifft die so genannte 'Bremse', die einzelne Mitgliedsländer ziehen können, wenn sie den Eindruck haben, dass die Begünstigten des Fonds die angekündigten und vereinbarten Reformen nicht umsetzen. ... Das andere Hindernis für eine bürgernähere Union besteht in der Haltung der so genannten Sparsamen - den Niederlanden, Österreich, Schweden, Dänemark und Finnland. Ihre jungen Führungspersönlichkeiten scheinen nicht das geringste Interesse an der Idee eines föderalen oder zumindest eines geeinteren Europas zu haben, wohl aber daran, ihre nationalen Interessen zu verteidigen.“
Europäische Politik bedeutet Kompromiss
Die Frankfurter Rundschau würdigt das Erreichte:
„Es bleibt ein Programm von in der europäischen Geschichte nie dagewesenem Format. Merkel ließ sich offenbar überstimmen, sie hätte lieber ein stärkeres Signal gegeben. Doch wer sagt, dass nicht auch dies ein Teil des großen Spiels ist? Ob nicht von Anfang an Verhandlungsmasse in sämtliche Summen eingebaut war, wird niemand im Nachhinein klären können. Fest steht aber zweierlei. Erstens: Nie wurde in der EU so viel Geld bewegt zu einem gemeinsam definierten Zweck. Zweitens: Europäische Politik kann nun mal nicht anders definiert werden als durch Kompromisse. ... [N]icht der Streit in Brüssel [ist] bemerkenswert, sondern die Tatsache, dass auf europäischer Ebene überhaupt immer wieder Einigungen gefunden werden.“
Ein Erfolg auch für Schweden
Stefan Lövfen hat beim Gipfel keineswegs kampflos das Feld geräumt, verteidigt Aftonbladet die Stockholmer Regierung:
„Ein Kompromiss bedeutet, dass niemand die Verhandlungen ganz zufrieden verlässt, und dass dies für Schweden zutrifft, ist offensichtlich. Der Zuschuss-Teil des Krisenpakets wird umfangreich. ... Schweden hatte in den Verhandlungen keine anderen realistischen Aussichten, als darauf zu drängen, diesen Teil gering zu halten. ... Eine reine Kreditvergabe war nie ein realistisches Szenario angesichts der starken Kräfte, darunter Frankreich und Italien, die große Teile des Pakets als Zuschüsse sehen wollten. ... Dass Schweden Zeichen gesetzt und dazu beigetragen hat, eine Senkung der Zuschüsse zu erzwingen, kann daher trotz allem als Erfolg gewertet werden.“
Der Rechtsstaat als Verhandlungsmasse
Ungarn und Polen haben auf dem Gipfel mal wieder alles bekommen, was sie wollten, kommentiert Habertürk:
„Die populistischen Regierungen in Ungarn und Polen strapazieren weiterhin die EU-Kriterien. Bei den Wiederaufbau- und Budget-Gesprächen verlangte die EU-Kommission von den Ländern, die Hilfen erhalten werden, dass sie Respekt vor den Grundrechten und Freiheiten ihrer Bürger zeigen und sich an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit halten. Das zielte in erster Linie auf Ungarn und Polen ab. ... Letztendlich aber war deren Widerstand erfolgreich. Und nachdem auch die Mitglieder aus dem Norden die rechtsstaatlichen Prinzipien hintanstellten, obwohl sie diese ursprünglich so betont hatten, erreichte man einen dünnen Kompromiss.“
Dämpfer für Orbán
Alle Wünsche des ungarischen Premiers wurden am Ende dann doch nicht erfüllt, bewertet dagegen Index das Ergebnis:
„Obwohl Viktor Orbán die Rechtsstaatlichkeitskriterien entfernen lassen wollte, diese sind im endgültigen Text der Haushaltvereinbarung weiterhin zu finden. Doch - wie es zu erwarten war - wird es in diesem Dokument viel abgeschwächter formuliert, als in dem ursprünglichen Entwurf. Die Abstimmungsregeln, um Sanktionen zu bestimmen, wurden so verändert, dass es politisch schwieriger wird, diese durchzuführen.“
Frankreich und Deutschland müssen anders führen
Für die Wiener Zeitung hat der Gipfel wertvolle Erkenntnisse gebracht:
„So stellt sich, erstens, die Hoffnung als Irrtum heraus, mit dem Austritt Großbritanniens verlasse der störende Nein-Sager die Union. Denn der Geist Londons ist weiter in Brüssel präsent: in Gestalt der 'Sparsamen Fünf' bei Budget-, Umverteilungs- und Wettbewerbsfragen, in Gestalt der Polen, Balten und Tschechen, wenn es um den Aufbau einer von den USA unabhängigen Sicherheitsarchitektur der EU geht. Der Druck zu Einstimmigkeit würde, zweitens, ein anderes Führungsverhalten von Deutschland und Frankreich erfordern. Statt sich vorab auf eine gemeinsame Linie zu verständigen, müssten die beiden gleich auf einen breiteren Konsens in umstrittenen Fragen hinarbeiten. Das würde aber eine Neuinterpretation der Rolle vom deutsch-französischen Tandem bedeuten - und insbesondere Frankreichs Selbstverständnis in Frage stellen.“