Was bedeutet die Bundestagswahl für Europa?
Am Sonntag wählt Deutschland ein neues Parlament und entscheidet damit auch über die Nachfolge von Angela Merkel. In aktuellen Umfragen führt die SPD mit Kanzlerkandidat Olaf Scholz (25 Prozent), gefolgt von der CDU/CSU (22 Prozent) und den Grünen (16 Prozent). So wichtig die Wahl für Europa auch sein mag - die meisten Kommentatoren denken nicht, dass sie viel an Deutschlands Politik ändert.
Partner für den Beitritt zur Euro-Zone
Rumänien hat große Erwartungen an die neue Regierung in Berlin, meint der Rumänische Dienst der Deutschen Welle:
„Bei der deutschen Wahl steht für die künftige Ausrichtung der EU viel auf dem Spiel, was die Überwindung der nationalen Komplexe und illiberalen Tendenzen anbelangt, die aus immer mehr Richtungen kommen. Wird Deutschland in der Lage sein, diese Trends umzukehren? ... Unabhängig vom Wahlausgang erwartet zumindest Rumänien von der neuen Regierung Hilfe beim Beitritt in den Schengen-Raum und in die Euro-Zone. Schließlich war Deutschland auch an den großen Entscheidungen beteiligt, die Rumänien in die Nato und in die EU gebracht haben.“
Portugals Aufschwung hängt von Berlin ab
Die Bundestagswahlen sind für Portugals Wirtschaft wichtiger als die ebenfalls am Sonntag stattfindenden Kommunalwahlen im eigenen Land, glaubt Expresso:
„Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem deutschen und dem portugiesischen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Wenn jemand das deutsche BIP kitzelt, fängt das portugiesische BIP 15 Minuten später lauthals zu lachen an – so groß ist der Einfluss deutscher Unternehmen. … Die EU-Wiederaufbauhilfe und die Zinsen der portugiesischen Staatsanleihen hängen in letzter Instanz von den Entscheidungen der deutschen Innenpolitik ab. Am Sonntag sind die Bundestagswahlen die wichtigeren Wahlen für unsere Zukunft. ... Denn diese haben Einfluss auf die Europäische Zentralbank und die Zinsen unserer Staatsschulden.“
Russisch-deutscher Dialog könnte neu aufleben
Ein Kanzler Olaf Scholz wäre gut für Russland, glaubt Ria Nowosti:
„Noch in den 80er Jahren war er einer der Juso-Chefs (und schrieb kritische Artikel über die 'aggressiv-imperialistische Nato'). ... Jetzt benimmt er sich wie ein typischer deutscher Politiker: Er kritisiert Putin wegen der Ukraine und Nawalny, unterstützt aber Nord Stream 2 und den Dialog mit Russland. Er ist sogar für eine 'neue Ostpolitik' nach dem Muster Brandts, der die Beziehungen zur UdSSR einrenkte. Allerdings spricht Scholz davon, dass diese neue Ostpolitik auf EU-Ebene stattfinden muss - aber heute sagen fast alle deutschen Mainstream-Politiker 'Europa' statt 'Deutschland'. Unter Scholz kann man also eine Rückkehr zu den Zeiten des engen russisch-deutschen Dialogs erwarten - sogar auf höchster Ebene.“
Selbst Grüne zu unambitioniert für die Jugend
Die junge Generation findet in der Parteienlandschaft keine Stimme, konstatiert La Stampa:
„Seit drei Jahren erhebt die 'Klima-Generation' ihre Stimme und kämpft jetzt mehr denn je. ... Zahlenmäßig fällt sie allerdings wenig ins Gewicht, denn von den 60,4 Millionen Wählern in Deutschland sind nur 14,4 Prozent jünger als 30 Jahre, während die über 50-Jährigen 57,8 Prozent ausmachen. Von diesen ist jedoch weniger als ein Drittel der Meinung, dass das Wohlergehen der jungen Menschen wahlentscheidend ist. Annalena Baerbocks Grüne werden auf die Unterstützung vieler junger Menschen zählen können. ... Die neuen Umweltbewegungen blicken jedoch weiter in die Zukunft. Nicht zuletzt, weil sie der Meinung sind, dass alle Parteiprogrammes, selbst das der Grünen, zu wenig ehrgeizige Ziele setzen.“
Deutschland wird sich weiter durchmogeln
Egal, wer Kanzler wird - die deutsche Außenpolitik wird sich nicht ändern, glaubt LRT:
„Sie wird weiter Staaten kritisieren, wo Menschenrechte verletzt und die demokratischen Verfahren missachtet werden, aber gleichzeitig darauf achten, dass seine eigenen Interesse nicht darunter leiden. ... Deutschland wird sich weiter um bessere Beziehungen zum benachbarten Polen bemühen und das Baltikum moralisch und materiell unterstützen, was die Flüchtlingskrise angeht. ... Die Beziehung zu Russland bleibt pragmatisch: Deutschland wird dessen Energieressourcen nutzen, aber Russland bei Verletzungen der Menschenrechte kritisieren. Moralisch und materiell wird es die Ukraine [beim Thema Krim] unterstützen, aber auch immer Verhandlungen mit Russland wegen des Kriegs im Donbass fordern.“
Südeuropa würde von Scholz profitieren
Für die Sicherung und Weiterentwicklung der Eurozone wäre eine SPD-geführte Ampel-Koalition in Berlin besser als eine CDU-geführte Jamaika-Koalition, argumentiert Timothy Garton Ash in The Guardian:
„Bei beiden Dreier-Konstellationen gäbe es mit ziemlicher Sicherheit mit Christian Lindner von der FDP einen Hardliner als Finanzminister. ... Doch ein Bundeskanzler Olaf Scholz würde eher als die finanzkonservativen Christdemokraten die pragmatische Flexibilität zeigen, die nötig ist, um den Zusammenbruch der Eurozone nicht nur zu verhindern - das würde jede deutsche Regierung tun -, sondern um sie langfristig für die leidenden Volkswirtschaften Südeuropas besser funktionieren zu lassen.“
Nach Merkel muss die EU näher zusammenrücken
Merkels Nachfolger müsste in der EU Reformen vorantreiben, gegen die sich die Kanzlerin teilweise gesträubt hat, fordert der Soziologe Hartmut Rosa in Le Monde:
„Nötig ist eine starke EU, die in den Bereichen Steuer- und Haushaltspolitik näher zusammenrückt, die die Möglichkeit in Betracht zieht, Euro-Bonds und weitere ähnliche Instrumente einzuführen, und die in Sachen Klima- sowie Außenpolitik mit eigenständiger und vernehmbarer Stimme spricht. Angesichts der beiden großen Probleme der Menschheit im 21. Jahrhundert - Klimakrise und zunehmende Ungleichheit zwischen Reichen und Armen - muss Europa ebenfalls entschlossen handeln und klare Position beziehen.“
An der Schäuble-Doktrin wird niemand rütteln
Wer auf Veränderungen der europäischen Finanzpolitik hofft, wird in Berlin - unabhängig vom Wahlausgang - auf Granit beißen, ist sich Kolumnist Georgios Malouchos auf In.gr sicher:
„Die gesamte deutsche Politik mit Ausnahme der Linken bewegt sich auf den Schienen der Fiskalpolitik von Wolfgang Schäuble. Es ist die Konstante, von der in Berlin niemand abweichen will und wird, egal, welche Koalition nach den Wahlen entstehen sollte. Schäubles Erbe besteht aus Granit. Ein heiliges Evangelium für Deutschland, da es die deutsche Hegemonie in Europa errichtete. Merkel geht. Schäuble, der Architekt und das 'Symbol' ihrer Epoche, niemals.“
Merkels Konsenspolitik reicht nicht mehr
Umfragen in Europa zeigen unterschiedliche Ansichten darüber, wie Deutschlands Rolle in Europa ohne die ausgleichende Art der Bundeskanzlerin aussehen soll, schreibt Mladá fronta dnes:
„In einer Untersuchung in zwölf ausgesuchten EU-Ländern wird zwar die wirtschaftliche Linie Berlins von einem großen Teil der Befragten gewürdigt. Deutschlands Rolle als geopolitischer Führer hingegen trifft nur auf die Unterstützung von 25 Prozent der Europäer. ... Der ausgleichende 'Merkelismus' habe bisher funktioniert. Er werde aber für künftige Herausforderungen wie die Klimakrise nicht ausreichen, lesen die Autoren der Studie aus den Antworten. Berlin brauche mehr Entschiedenheit und Durchsetzungsvermögen.“
Wenig Liebe zwischen Olaf und Mette
Der Nordschleswiger, Zeitung der deutschen Minderheit in Dänemark, stellt fest, dass die Gemeinsamkeiten zwischen Kanzlerkandidat Olaf Scholz und der sozialdemokratischen dänischen Regierungschefin Mette Frederiksen überschaubar sind:
„Die Differenzen in der Ausländer- und Einwanderungspolitik sind bekannt, aber nicht weniger tief, ja an manchen Stellen fast schon unüberbrückbar sind die Unterschiede in der Europa-Politik, wo die dänischen Sozialdemokraten zusätzlich unter Druck geraten, wenn Olaf Scholz das Integrationstempo in Europa erhöhen will. Selbst mit viel roter Fantasie: Ein politisches Happy End zwischen Olaf und Mette ist vorläufig nicht in Sicht - trotz geopolitischer Nähe!“
Endlich Alternativen
Jens Bastian, Politikberater bei der Denkfabrik Eliamep (Hellenic Foundation for European and Foreign Policy) schreibt auf Macropolis:
„Merkels allzu häufiges politisches Credo war die Tina-Politik: 'There Is No Alternative'. Angesichts der herausfordernden politischen Entscheidungen, denen Deutschland im In- und Ausland gegenübersteht, stößt das Festhalten an diesem Prinzip des Merkelismus bei einer Mehrheit der deutschen Wähler nicht auf Zuspruch. Zum ersten Mal in der Erinnerung vieler Wähler bietet der Wahlkampf 2021 Alternativen, also große politische Unterschiede zwischen den drei führenden Parteien und ihren jeweiligen Kanzlerkandidaten. ... Es ist an der Zeit, der Tina-Politik die Tür zu weisen und die Fenster der Möglichkeiten zu öffnen.“
Scholz der bessere Partner für Frankreich
Warum aus Pariser Sicht eine SPD-Kanzlerschaft wünschenswert wäre, erklärt The Irish Times:
„Eine Scholz-geführte Regierung würde den EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt zu einem neuen 'Nachhaltigkeitspakt' ausbauen - mit Vorschlägen für einen EU-Mindestlohn und eine -Arbeitslosenversicherung. ... Ein weltweites Abkommen für eine Mindeststeuer steht kurz vor dem Abschluss, und der scheidende Finanzminister drängt darauf, dass in EU-Steuerfragen künftig das Mehrheits- und nicht mehr das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Es wird schnell klar, dass aus Pariser Sicht ein Kanzler Scholz eher mit dem proaktiven und reformistischen französischen Präsidenten auf einer Linie wäre. ... Der deutsch-französische Motor der EU würde eine weitere vorsichtige und reaktive CDU-Kanzlerschaft nicht überleben, fürchten Frankreichs Staatsdiener.“
SPD-Kandidat lässt Angriffe abprallen
Gazeta Wyborcza glaubt nach dem zweiten Triell nicht an eine Trendwende bei den Kanzlerkandidaten:
„Der Angriff des Christdemokraten auf den Sozialdemokraten wirkte verzweifelt. Er war auch nicht überraschend. Die Wirecard-Affäre schleppt der SPD-Politiker seit mehr als einem Jahr mit sich herum, an seinem hohen Rückhalt in der Bevölkerung hat sie nichts geändert. Scholz wird von jedem dritten Bürger als Kanzler gesehen, Laschet von jedem zehnten. ... Die Wähler erwarteten, dass Laschet, mit der Pistole auf der Brust, seinen Rivalen rücksichtslos angreifen würde. Berater rieten Scholz aber schon im Vorfeld, angesichts der Angriffe ruhig zu bleiben und keine Fehler zu machen. Und das ist ihm in der Debatte gelungen.“
Keine Angst vor progressiver Regierung
Das von CDU und CSU bemühte Schreckgespenst der "Roten Socken" zieht nicht, merkt Berlin-Korrespondentin Tonia Mastrobuoni in La Repubblica spitz an:
„Auch die jüngsten Umfragen zeigen, dass die Karte, die die CDU/CSU bisher zu spielen versucht hat, nämlich das Risiko einer 'roten Welle', einer Regierung zwischen Sozialdemokraten, Grünen und Linken, nicht funktioniert. Die Deutschen glauben nicht daran oder sind nicht besonders erschrocken über die Aussicht auf eine progressive Regierung. Und sie scheinen verstanden zu haben, dass [SPD-Kandidat] Scholz, der von der rechten Seite der Partei kommt, nicht die Absicht hat, ein Bündnis mit der Linken einzugehen. Aber er muss sich diese Option offen halten, um nicht geschwächt am Tisch mit den Liberalen zu sitzen.“
Ohne Grüne keine Zukunft
Weder CDU noch SPD sind die richtigen Parteien für die Herausforderung des Klimawandels, findet Politiken:
„Merkels bürgerlicher Parteikamerad Armin Laschet leidet darunter, dass seine CDU über die Jahre die skandalgeplagte deutsche Autoindustrie beschützt hat. Seine grünen Reden klingen hohl. Aber es eilt. Denn wie sagte die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock: 'Die nächste Regierung ist die letzte, die noch Einfluss auf die Klimaveränderungen nehmen kann.' Hört! In dieser Hinsicht war sie die einzige der drei Kandidaten, die in die Zukunft blickte. Die beiden anderen stehen mit ihren Lackschuhen solide verankert in der Vergangenheit. ... Die Deutschen und die EU brauchen die Grünen in Deutschlands nächster Regierung.“
Angst vor zu schwachem Deutschland
Ganz andere Ängste als noch die deutsche Wiedervereinigung begleiten diese Wahl in Deutschlands Nachbarländern, beobachtet Les Echos:
„Ihre Sorge (allen voran die Frankreichs) fällt genau umgekehrt zu der von vor 30 Jahren aus. Der Angst, dass ein zu starkes Deutschland Europa dominieren kann, ist die Furcht gewichen, dass ein von zu schwachen Regierenden geführtes Deutschland unfähig ist, die Rolle zu spielen, die man von ihm in einem neuen globalen geopolitischen Kontext erwartet. Anders ausgedrückt: Wir sind von einer Angst vor 'zu viel Deutschland' zu einer vor 'zu wenig Deutschland', was 'zu wenig Europa' bedeuten würde, übergegangen.“
Berlin darf seine Führungsrolle nicht vergessen
Deutschland konzentriert sich im Wahlkampf zu sehr auf Stabilität und nationale Angelegenheiten, mahnt Le Temps:
„Diese 'Helvetisierung' der politischen Debatte in Deutschland hat nichts Erfreuliches. Während die USA sich zur Verteidigung ihrer direkten Interessen abkapseln und China an seinen Wirtschafts- und Finanzwaffen für die Zeit nach der Pandemie feilt, braucht Europa auf der internationalen Bühne die Stimme und die Macht der Bundesrepublik. Berlin muss weiterhin, so wie es Angela Merkel mutig tat, aus seiner Komfortzone herauskommen und die Zukunft mit seinen europäischen Partnern planen. Die stärkste Wirtschaft der Eurozone muss auch durch eine starke Investitionspolitik und die Forderung solider Haushaltsführung dazu beitragen, dass der Alte Kontinent wieder auf die Beine kommt.“