Was verändert sich durch den Rechtsruck in Italien?
Das von der postfaschistischen Partei Fratelli d'Italia (FdI) angeführte Rechtsbündnis hat künftig die absolute Mehrheit in beiden Kammern des italienischen Parlaments: FdI, die rechtspopulistische Lega und die konservative Forza Italia erhalten laut Innenministerium 112 der 200 Sitze im Senat und 235 der 400 Sitze in der Abgeordnetenkammer. Kommentatoren fragen sich, was auf die europäischen Länder zukommen könnte.
Meloni nicht vorschnell verurteilen
Der ehemalige Diplomat Božo Cerar wartet auf die Taten Melonis, wie er in Portal Plus schreibt:
„Ob Melonis Äußerungen aufrichtig und ihre parteiinternen Bemühungen erfolgreich waren, werden die Schritte der von der FdI geführten rechten Regierungskoalition schnell zeigen. Es wird sich herausstellen, ob wir es wirklich mit einer konservativen Partei modernen Typs zu tun haben – und mit nichts anderem. ... Meloni gelang es, die Koalitionspartner in Bezug auf die Ukraine und die Haltung gegenüber Russland zu überzeugen und Salvini zum Schweigen zu bringen. ... Die Taten der FdI müssen also ihrer Rhetorik folgen.“
Flüchtlingsproblem nicht mehr ignorierbar
Cumhuriyet erinnert daran, dass Meloni noch im August erklärt hat, dass sie Flüchtlinge zurückweisen würde, wenn sie weiterhin kämen:
„Es ist nicht schwer zu erraten, wie bei einer derartigen Haltung diese Pushbacks aussehen werden. Wenn das so weitergeht, wird das Mittelmeer ein Migranten-Friedhof. ... Denn vor dieser Situation steht nicht nur Italien. In vielen Ländern Europas sind die Migranten ein wesentliches 'Mittel' von Wahlpropaganda. Die westlichen Staaten, die innere Konflikte in Asien und Afrika nur aus der Perspektive ihrer eigenen Interessen betrachten, erfahren gerade am lebenden Beispiel, dass solche Probleme keine geografischen Grenzen kennen.“
Nicht auf Provokationen eingehen
Kroatien solle sich nicht provozieren lassen, meint der Journalist Inoslav Bešker in Jutarnji list:
„Meloni plädierte vor acht Jahren dafür, dass 'Kroatien Italien Istrien und Dalmatien zurückgibt'. Ich glaube nicht, dass dies die Grundlage ihrer Regierung wird, aber ihre Antipathie für Kroatien ist bekannt und anerkannt. ... Müssen wir faschistische und irredentistische Provokationen befürchten? Wahrscheinlich. Aber die gab es auch bisher. Es liegt an der kroatischen Regierung, den Politikern und Medien, ob sie Resonanzbox für jeden Narr werden oder diese ignorieren, so wie es die große Mehrheit der italienischen Öffentlichkeit tut. “
Putin kann sich freuen
Die Wahl in Italien haben nach Ansicht von Aftonbladet nicht nur die postfaschistischen Fratelli d'Italia gewonnen:
„Mit der neuen rechtsextremen Regierung in Rom kann Viktor Orbán auf einen sicheren Verbündeten zählen. Im Kreml sieht Wladimir Putin neue Möglichkeiten, Kontroversen um die Sanktionen gegen Russland und die Unterstützung für die Ukraine zu schüren. Der eigentliche Gewinner der italienischen Wahl ist in Moskau zu finden.“
Melonis Macht ist begrenzt
Rzeczpospolita macht sich wenig Sorgen um die EU:
„In der Vergangenheit hat Meloni die Briten für den Brexit gelobt und sich skeptisch gegenüber der Gemeinschaftswährung Euro geäußert. Doch je näher die Wahlen rückten und je realer die Aussicht auf die Regierungsübernahme wurde, desto vorsichtiger wählte sie ihre Worte. Obwohl Italien eines der größten Länder der EU ist, verfügt es nur über begrenzte Souveränität in seiner Wirtschafts- und Außenpolitik, und Meloni wird das schnell erkennen. ... Ihre Ablehnung von Abtreibungsrechten oder LGBT-Rechten ist allgemein bekannt. Auf EU-Ebene wird dies jedoch nichts ändern, da Brüssel in dieser Angelegenheit keine Zuständigkeit hat. ... In Anbetracht all dessen scheint es, dass Meloni die EU nicht verändern wird.“
Die Pleite-Politiker sind zurück
Um den wirtschaftlichen Kurs der künftigen Regierung in Rom sorgt sich Hospodářské noviny:
„Es werden die Leute regieren, die es beim letzten Mal fast in den Bankrott geführt haben. ... Schon zwischen 1994 und 2011 waren sie - Politiker der jetzigen Rechtskoalition - die meiste Zeit in Italien an der Macht. ... In diese Zeit fallen die meisten Probleme, die Italien heute so sehr beunruhigen. Im November 2011 endete ihre Regierung mit einem schändlichen Rücktritt zu einer Zeit, als Italien am Rande des Bankrotts stand und der Rücktritt einer inkompetenten Regierung weithin als notwendige Bedingung angesehen wurde, damit das Land überhaupt eine Chance hat, sich vom Abgrund auf trockenen Boden zurück zu kämpfen. Und jetzt sind diese Politiker zurück.“
Werte schützen, aber Bürgersorgen ernst nehmen
Gemäßigte Parteien müssen Antworten auf die Fragen finden, die durch die Erfolge der Extremisten offenkundig sind, drängt La Croix:
„Der nationalistische Durchbruch in Italien erfolgt kurz nach dem historisch starken Abschneiden des Rassemblement National in Frankreich und der extremen Rechten in Schweden. Parteien, die aufgrund des Migrationsthemas, der Integrationsprobleme und Identitätsspannungen florieren. Wie kann man auf kulturelle Sorgen und das Gefühl sozialen Abstiegs reagieren, ohne bei Werten einzuknicken, auf denen der europäische Pakt basiert, angefangen bei der Solidarität? Die Themen dürfen von den anderen Parteien nicht mehr vernachlässigt werden. Sonst besteht die Gefahr, dass die nächsten noch höheren nationalistischen Wellen das gesamte Gemeinschaftsbauwerk wegspülen.“
Trend zum Nichtwählen stoppen
Das 2017 eingeführte Wahlrecht, genannt Rosatellum, bei dem nur ein Drittel der Abgeordneten direkt gewählt und der Rest über Listen je nach landesweitem Abschneiden der Parteien bestimmt wird, hat die Wahlbeteiligung stark gesenkt, ärgert sich Chefredakteur Marco Tarquinio in Avvenire:
„Es hat leider den schleichenden Trend zur Nichtwahl verstärkt. ... Die Folge nämlich ist ein bitterer Rekord: Die Wahlenthaltung ist um rund zehn Prozentpunkte auf über 36 Prozent gestiegen, ein Wert, der bei einer Parlamentswahl noch nie erreicht wurde. Über 18 Millionen Italienerinnen und Italiener haben aus Unzufriedenheit, Abscheu oder Resignation beschlossen, sich nicht an dem für jede Demokratie grundlegenden Ritual zu beteiligen.“
Auf dem Weg zu ungewohnter Instabilität
Ctxt.es erkennt grundlegende Veränderungen:
„Italien ist das extremste und früheste Beispiel eines Prozesses, der sich in vielen europäischen Ländern vollzieht. ... Italiens politisches System gleicht sich gewissermaßen dem jener lateinamerikanischen Länder an, wo sich kein stabiles Parteiensystem herausgebildet hat (Peru oder Ecuador) oder wo traditionelle Parteien von neuen politischen Kräften verdrängt wurden (Chile oder Kolumbien). Man sollte darüber nachdenken, ob sich die europäische Politik immer mehr dem fluiden Zustand der lateinamerikanischen Demokratien annähert. ... Welches politische Prinzip könnte die Demokratien stabilisieren?“
Risikofaktor Rom
Der Wechsel von Draghi zu Meloni wird der Wahrnehmung des Landes im Ausland schaden, befürchtet Corriere della Sera:
„Es ist nicht zu übersehen, dass die neue Phase außerhalb unserer Grenzen als ein Risiko und von einigen Regierungen sogar als Trauma empfunden wird. Es wird ein Dominoeffekt auf die kontinentalen Bündnisse befürchtet mit einer Wiederbelebung des Souveränismus durch die italienischen Ergebnisse, die auf die schwedischen folgen, und einem Aufschwung des Wohlwollens gegenüber Russland aufgrund der Präsenz der Lega und der Forza Italia in der Koalition. Vieles wird von den internen Machtverhältnissen abhängen. ... Aber die Marschrichtung wird bereits in den ersten Äußerungen der Sieger zum Verhältnis zu Europa und zu den Sanktionen gegen das Putin-Regime deutlich werden.“
Keiner kann sich weitere Spannungen erlauben
Der Rechtsruck in Rom bereitet Novi list Sorgen:
„Das Wahlergebnis in Italien ist für die EU kein gutes Zeichen. Die EU befindet sich in einer der schwersten Zeiten der Geschichte, wegen der Energiekrise, die im Schatten des Krieges in der Ukraine in eine Wirtschaftskrise ausartet und die Unzufriedenheit der Bürger anheizt. Spannungen zwischen den EU-Institutionen und Italien, falls Meloni Premierministerin wird, sind fast unausweichlich. Man muss hoffen, dass der Realismus siegen und man einigermaßen zusammenarbeiten wird, denn zu große Spannungen zwischen Rom und Brüssel sind ein Luxus, den sich weder die eine noch die andere Seite erlauben kann.“
Gute Gründe, es sich nicht mit der EU zu verscherzen
Konflikte sieht Cyprus Mail vor allem in Bezug auf die gemeinsame Position gegenüber Russland:
„Der fortgesetzte Zugang zum Covid-Konjunkturprogramm der EU, das Italien für die nächsten sechs Jahre 191 Milliarden Euro zugesagt hat, sollte Meloni davon abhalten, sich zu weit von der orthodoxen Wirtschaftspolitik zu entfernen. Sollte die EU diese Mittel zurückhalten, wären ihre Aussichten auf einen Verbleib an der Macht gering. Angesichts der russischen Energieblockade, die Europa in diesem Winter wirtschaftlich schwer zu schaffen machen wird, besteht die offensichtliche Strategie der rechtsextremen Parteien darin, eine weichere Linie gegenüber Putins Krieg in der Ukraine zu vertreten.“
Gegen inneren Angriff wehren
Brüssel sollte mit Entzug der Mittel drohen, sollte Rom zu sehr ausscheren, drängt El País:
„Europa betritt zum zweiten Mal Neuland: Das erste Mal war der Brexit. ... Noch nie wurde eine Regierung in Westeuropa von einer neofaschistischen Rechten geführt, die ihre antieuropäische Skepsis und ihren kriegerischen Nationalpopulismus unverhohlen zur Schau stellt. ... Aber die Tatsache, dass Europa Neuland betritt, bedeutet nicht, dass es keine Kontrollmechanismen gibt: Es stehen noch mehrere Lieferungen europäischer Gelder aus. ... Italien driftet offen nach rechts ab, aber Europa muss seine Kontrollmechanismen gegen diejenigen verschärfen, die danach streben, die EU selbst zu destabilisieren.“
Bitte kein Autoritarismus aus Brüssel
Mit ihren Äußerungen unmittelbar vor der Wahl hat sich die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen unzulässig eingemischt, ärgert sich Dániel Galsai, Journalist bei der regierungsnahen Magyar Hírlap:
„'Wenn sich die Dinge in eine schwierige Richtung entwickeln - ich hatte schon über Ungarn und Polen geredet - dann haben wir Instrumente' - das war Ursula von der Leyens herzliche Botschaft an die italienischen Wähler. ... Übrigens sind wir hier in Ostmitteleuropa ziemlich sensibel gegenüber solchen Kommentaren wie 'wir haben Instrumente'! Bei uns war sowas in den frühen Fünfzigern, in den stalinistischen Zeiten, aus dem Mund von kommunistischen Schlägern in Mode.“
Die nächsten leeren Versprechen kommen bestimmt
Der Spuk wird bald schon wieder vorbei sein, beschwichtigt Onet:
„In Italien ist es in der Regel so, dass der schärfste Kritiker der amtierenden Regierung schnell enormen Zuspruch erhält, (in der Regel vorgezogene) Wahlen gewinnt und dann ebenso schnell wieder an Zuspruch verliert, weil die Realität es ihm nicht erlaubt, seine unerfüllbaren Wahlversprechen zu halten. Die Regierung stürzt und ein anderer goldzüngiger Wortführer übernimmt das Ruder und fesselt die Massen. Ein solcher Sturz hat schon einmal zwei der nationalistischen Koalitionspartner von Frau Meloni getroffen: Silvio Berlusconi, den Gründer der Forza Italia, und Matteo Salvini, den Führer der strikt einwanderungsfeindlichen Liga.“