Bundestagsmehrheit mit Hilfe der AfD: Was heißt das?
Die Mehrheit des Bundestags hat am Mittwoch einem rechtlich nicht bindenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion zur Verschärfung der Migrationspolitik zugestimmt. So sollen unter anderem dauerhafte Kontrollen an den deutschen Grenzen eingeführt werden. Über die Abstimmung wurde heftig gestritten, da die Mehrheit durch die Ja-Stimmen der aktuell vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuften AfD zustande kam. Europas Presse ordnet ein.
Tiefe Gräben in der Mitte
Aus Sicht des Tageblatts sind alle demokratischen Parteien ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden:
„In der politischen Mitte Probleme lösen, damit die Ränder nicht stark werden. Das ist das, was man sich wünscht. Es ist auch ein Versagen des Kanzlers und der Ampel, dass das im Sommer nicht erreicht wurde. Aber mit seinem Vorgehen hat Merz dem Land im Wahlkampf keinen Dienst erwiesen. Denn der Geist ist seit Mittwoch aus der Flasche. Die schrecklichen Gewalttaten sind eine Mahnung. Aber die Gräben zwischen den Demokraten sind tiefer geworden. Man kann nur hoffen, dass sie nach dem Wahlkampf wieder überwunden werden können.“
Das Geschwätz von gestern
Der Standard misstraut Merz:
„'Niemals mit der AfD koalieren': Dies Merz zu glauben, fällt sehr vielen Menschen nun sehr viel schwerer. Zu Recht. Man erinnert sich, wie Merz in Davos die blau-schwarzen Verhandlungen in Österreich als 'Desaster' bezeichnet hat, und auch daran, dass er im November noch gemeint hat, es dürfe niemals im Bundestag auch nur zufällige Mehrheiten mit der AfD geben. Das aber ist jetzt offenbar das Geschwätz von gestern, das niemanden mehr interessieren sollte.“
Mit den Stimmen einer legalen Partei
Lidové noviny hält die Aufregung über das Vorgehen von Merz für ebenso heuchlerisch wie die bisherige Ausgrenzung der AfD:
„Die AfD ist wirklich nicht heilig. ... Aber sie agiert in einem demokratischen Umfeld und kein Gericht hat sie aufgelöst. Hätte das Verfassungsgericht dies getan, gäbe es mehr Klarheit. Doch wenn ein Gericht durch Leute aus Parteisekretariaten oder Zeitungsredaktionen ersetzt wird, stimmt etwas nicht. Friedrich Merz versuchte, den Fluch zu brechen. Er nutzte die AfD nicht als Kooperationspartner, sondern als reguläres politisches Instrument. Er legte dem Parlament einen Vorschlag vor und forderte alle auf, ihn zu unterstützen. Es stellte sich heraus, dass die Mehrheit dafür ist – auch wenn das dem linken Establishment nicht passt.“
Vorbei mit der Vorhersehbarkeit deutscher Politik
Tygodnik Powszechny fürchtet ernste Folgen für Polen:
„Ein Teil der illegalen Migranten gelangt nach wie vor entweder über die polnisch-belarusische Grenze oder über Polen aus Litauen, der Slowakei oder der Tschechischen Republik kommend nach Deutschland. Was, wenn sie nun an der deutsch-polnischen Grenze zurückgewiesen werden? Bei einem so emotionalen Thema ist es leicht, eine Grenzkrise und im weiteren Sinne einen deutsch-polnischen Streit zu provozieren. Außerdem wird sich in Berlin nach der bevorstehenden Wahl nicht unbedingt eine klare, regierungsfähige Mehrheit herausbilden. So könnte nicht nur die Migrationspolitik von Angela Merkel, sondern auch die politische Stabilität und Berechenbarkeit, die Deutschland nicht nur unter Merkel, sondern auch unter ihren Vorgängern auszeichnete, der Vergangenheit angehören.“
Das wird Folgen haben
Dass diese Mehrheit zustande gekommen ist, wird dauerhaft Spuren im politischen System hinterlassen, glaubt die Stuttgarter Zeitung:
„Die Republik hat sich an diesem Tag derart verändert, dass sich Historiker noch damit beschäftigen werden. Wer die Tür zur Zusammenarbeit auch nur einen Spalt weit aufmacht, muss befürchten, dass sie irgendwann kraftvoll aufgestoßen wird. Die in Teilen rechtsextreme AfD konnte sich nie so mächtig fühlen wie in dieser Woche. Das hat dauerhaft politische Folgen – nicht nur für Menschen mit Migrationshintergrund.“
EU-Recht ist veränderbar
Tagesschau.de empfiehlt mehr Pragmatismus:
„'Brandmauer'-Debatten ... werden außerhalb der politischen Blasen kaum verstanden. ... Wenn Redner von Rot-Grün wie Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck die Bedeutung der Debatte für die Demokratie hervorheben, haben sie Recht. Nur anders, als gedacht: Wer immer nur sagt, was nicht geht, der erzeugt Unzufriedenheit, der sorgt für Demokratieverdrossenheit. Das EU-Recht beispielsweise, das vielfach angeführt wird, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern von Politikern so beschlossen worden. Es kann also auch wieder geändert werden. Und das ist die Erwartung der großen Mehrheit der Menschen im Land.“
Vielleicht auch eine Reaktion auf Musk
La Repubblica sieht eine traurige Kehrtwende in Deutschland:
„Mit diesem Schritt bricht der wahrscheinlich künftige deutsche Bundeskanzler ein Tabu, das nur noch in Deutschland galt – aus offensichtlichen historischen Gründen. Es ist die Auslöschung des gesündesten Erbes aus der langen Ära von Angela Merkel, Merz' großer Rivalin, die sich immer an den Imperativ 'Niemals mit der AfD' gehalten hatte. Es wirkt zugleich so, als ob sich der Chef der Konservativen vor dem neuen Trump-Gehilfen Elon Musk verbeugen will, der noch vor zwei Tagen im Zusammenhang mit einer Alice-Weidel-Kundgebung gebrüllt hatte, die Deutschen müssten aufhören, sich für ihre Vergangenheit zu schämen.“
Rückkehr zur Normalität
Die Aargauer Zeitung findet Merz' Vorschläge vernünftig:
„Eine Umsetzung von Merz’ Vorstellungen würde eine Rückkehr zur europäischen Normalität bedeuten: Zu einer verantwortungsvollen Asylpolitik, wie sie auch die Bundesrepublik betrieben hatte, bevor Angela Merkel die Grenzen öffnete. Wollen sie den weiteren Aufstieg der AfD stoppen, werden die übrigen Parteien um Verschärfungen bei der Asylpolitik nicht herumkommen. Auf die Grünen wird Merz auch in Zukunft kaum zählen können: Sie fordern selbst jetzt noch Erleichterungen beim Familiennachzug und erweisen sich damit als migrationspolitische Geisterfahrer. So muss Merz wohl darauf hoffen, dass bei der SPD nach der Wahl Realismus einkehrt.“
Lehren der Geschichte mit Füßen getreten
Le Soir warnt:
„Die extreme Rechte regiert offiziell in Italien, den Niederlanden, Ungarn, der Slowakei sowie Finnland und könnte in Österreich und Tschechien die Führung übernehmen. Sie gibt der schwedischen und französischen Regierung zum Teil den Weg vor. … Und nun paktiert sie mit dem voraussichtlich künftigen deutschen Regierungschef. Ihr gegenüber geraten viele demokratische Parteien in Panik, versuchen, sie zu imitieren oder mit ihr zusammenzuarbeiten. Anstatt sich zu erheben, Widerstand zu leisten, Grundwerte und Menschenrechte zu verteidigen und Fremdenfeindlichkeit sowie Hass zu bekämpfen. … Wie es uns die Geschichte doch nachdrücklich lehrt – die Geschichte, derer doch viele demokratische Volksvertreter diese Woche noch gedacht haben.“