Wird sich die EU über Flüchtlinge einig?
Kurz vor dem EU-Gipfel am Wochenende - und nach dem von Angela Merkel gewünschten Mini-Gipfel - ist weiterhin unklar, ob sich die EU-Staaten zu einer gemeinsamen Migrationspolitik durchringen werden. Und ob sich die Befürworter einer solidarischen Flüchtlingsaufnahme oder die Vertreter einer Abschottungspolitik durchsetzen werden. Journalisten richten mahnende Worte an die Politik.
Es fehlt die Ursachensuche – wie immer
Die europäische Migrationsdebatte geht am eigentlichen Problem vorbei, kritisiert The Economist:
„Sowohl die illegalen Seeüberquerungen als auch die Asylanträge sind im Vergleich zu den Vorjahren auf einem Niedrigstand - auch dank der Abkommen mit der Türkei und Libyen. … Aber die Flüchtlingspolitik reagiert immer nur zeitverzögert. Die Flüchtlingskrise hat Anti-Einwanderungsparteien in ganz Europa beflügelt. Die Folgen werden jetzt augenscheinlich. In Italien versuchen die Populisten, ihr Wahlversprechen aus der Regierungsposition heraus durchzusetzen. In Deutschland mischen sie sich zunehmend von außen ein. Die europäische Debatte folgt daher ihrer eigenen politischen Logik und hat immer weniger mit den Ursachen für die Migrationsströme zu tun. Diskussionen über Kriege im Nahen Osten, gescheiterte Staaten in Nordafrika oder Armut in Ländern der Subsahara werden aufgeschoben. Wie immer.“
Zuallererst demütig zuhören
Jetzt müssen sich die EU-Staaten wirklich am Riemen reißen, mahnt Göteborgs-Posten:
„Was in Italien und Deutschland geschieht, aber auch in Schweden, mit Top-Platzierungen der [rechten] SD in den Umfragen, zeigt die Sprengkraft der Migrationsfrage ... Wenn die Unzufriedenheit der europäischen Wähler ignoriert wird, stellen die Parteien, die die Flüchtlingspolitik verschärfen wollen, auch die europäische Zusammenarbeit in Frage. Europa braucht eine langfristig wirksame und geordnete Migrationspolitik. Daher sollte Löfven demütig zuhören, was seine europäischen Kollegen, einschließlich Macron, auf dem Gipfel zu sagen haben. Der schwedische Premier sollte den Vorschlag einer Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in Afrika nicht von vornherein ablehnen.“
Flüchtlingskrise als Chance begreifen
Die Rettung Europas liegt in der gemeinschaftlichen Lösung der Flüchtlingskrise, betont Avvenire:
„In einer Zeit, in der die Bürger den Schutz vor den Folgen der Globalisierung durch wirksames politisches Handeln fordern, stellt das Fehlen einer gemeinsamen Linie zu einem so heiklen Thema das ganze Gemeinschaftsprojekt in Frage. Die Suche nach dem Gemeinwohl ist dabei keine Rhetorik, sondern eine sehr konkrete politische Übung. ... Das einzig Intelligente, was Europa tun kann, ist, das Problem in eine Chance für alle zu verwandeln. Dies ist möglich, wenn das Gemeinwohl nicht auf seine Karikatur reduziert wird. ... Das wahre Gemeinwohl ist in diesem Fall eine gemeinsame Projektion auf ein noch nicht existierendes Gut. Und das fordert alle - Institutionen, Wirtschaft, Gesellschaft, Bürger - auf, sich zu bewegen.“
Ein Kompromiss ist noch möglich
Wie eine gemeinsame Lösung in der EU-Flüchtlingspolitik doch noch zustande kommen könnte, erklärt Gabriel Grésillon, Brüssel-Korrespondent von Les Echos:
„Der sich abzeichnende Kompromiss würde insbesondere auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen basieren. Erstere könnten besser abgeschreckt werden, und zwar durch eine Einschränkung ihrer Freizügigkeit innerhalb der EU, beschleunigte Rücksendungen in die Heimatländer, deutlich verstärkte Grenzkontrollen und ehrgeizigere Maßnahmen in den Auswanderungs- und Transitländern. Hinsichtlich der Flüchtlinge würde der Kompromiss es der europäischen Solidarität erlauben, sich in spezifischen Fällen anders zu entscheiden. Nötig ist dafür jedoch, dass Rom und Athen solide Gegenleistungen erhalten. Und dass sich Angela Merkel offiziell von ihrer ursprünglichen Idee [von Flüchtlingsquoten] lossagt.“
Bitte keine Asylzentren in Afrika!
Vor Auffanglager außerhalb der EU, wie Tusk sie vorschlägt, warnt The Times of Malta:
„Uns wird gesagt, dass in diesen Zentren höchste Menschenrechtsstandards gelten müssten, die der Würde der Menschen gerecht werden. Doch solche Standards werden derzeit nicht einmal in den europäischen Auffangzentren eingehalten. Diese sind überbelegt, sowohl Migranten als auch Arbeitskräfte leiden unter großem Stress. Viele soziale Probleme entstanden erst wegen dieser Zentren. Warum sollte irgendjemand annehmen, dass Europa in Libyen und Niger Standards einhalten könnte, die es in Malta, Italien, Griechenland und anderswo nicht einhalten kann? Es klingt eher danach, dass Gefahren nach dem Motto 'Aus den Augen, aus dem Sinn' ausgelagert werden sollen, anstatt sie zu reduzieren.“
Athen muss moralischen Widerstand leisten
Athen muss bei diesem Gipfel, bei dem es auch darum gehen wird, Migranten wieder in die Erstankunftsländer zurückzuschicken, hart verhandeln, mahnt Kathimerini:
„Griechenland sieht sich einer großen Gefahr gegenüber, da es geographisch als Zugangspunkt zu Europa dient und außerdem das Risiko trägt, Migranten und Flüchtlinge aufzunehmen, die von anderen EU-Mitgliedstaaten zurückgeschickt werden. ... Die Tatsache, dass es einen Mangel an Solidarität gibt und der notwendige Wille auf Seiten der Partner Griechenlands fehlt, das Problem auf möglichst humane Weise zu lösen, macht die Lage noch schlimmer. Die Regierung ist moralisch verpflichtet, sich gegen jeden 'Vorschlag' zu wehren, der Griechenland in ein Sammellager für arme Seelen verwandeln würde.“
Italien und Griechenland ließen EU im Stich
Einen ganz anderen Blick auf die Erstankunftsländer hat hingegen die Wiener Zeitung:
„Nicht die EU hat deshalb Italiener und Griechen im Stich gelassen, sondern sie haben - anders als etwa die Ungarn - die EU im Stich gelassen, indem sie unterließen, wozu sie rechtlich verpflichtet waren und sind. Wenn Italien und Griechenland auf Dauer nicht willens oder nicht imstande sind, endlich konsequent zu tun, wozu sie verpflichtet sind, und gleichzeitig kein schneller und effizienter gemeinsamer Schutz der Außengrenzen zustande kommt, wird sich daher die Frage stellen müssen, ob diese Staaten eigentlich weiter im Schengen-Raum verbleiben können.“
Orbán arbeitet an Merkels Sturz
Auf der Suche nach einer europäischen Lösung hat Kanzlerin Merkel Ungarns Premier Orbán - ihren EU-weit wohl schärfsten Gegner - nach Berlin eingeladen. Damit kommt sie einer europäischen Lösung kein Stück näher, findet Népszava:
„Orbán lehnt grundsätzlich alle Vorschläge der Europäischen Union in der Flüchtlingsfrage ab und spekuliert damit auf Angela Merkels Sturz, denn die Kanzlerin ächzt unter der politischen Last von Horst Seehofer, dem bayerischen CSU-Vorsitzenden und deutschen Innenminister. Wenn Orbán ein politisches Gewissen hätte, würde er zugeben, dass er die Kanzlerin 2015 betrogen hat, als er sie glauben ließ, in Budapest gäbe es eine humanitäre Krise - woraufhin sie die deutschen Grenzen öffnete. Orbán versucht mittlerweile in der Flüchtlingsfrage ganz offen, jede gesamteuropäische Lösung zu verhindern.“
Salvini säße lieber bei Orbán als bei Merkel
Wie aktuell die Gräben in der EU verlaufen, skizziert Huffington Post Italia:
„Weniger als zehn Tage vor dem Europäischen Rat ist die Union klar gespalten. Auf der einen Seite die Souveränisten der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn). Sie treffen sich, gemeinsam mit den Österreichern, [am heutigen Donnerstag] in Budapest, am 'Hof' von Viktor Orbán. Dort werden sie ihre Waffen für den EU-Gipfel schärfen. Auf der anderen Seite die historische Leitfigur der EU, Deutschland, die gemeinsam mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, für Sonntag in Brüssel eine informelle Zusammenkunft einberufen hat. … Italien ist, obgleich es an letzterer Zusammenkunft teilnimmt und nicht am Treffen in Ungarn, politisch dem Block der Souveränisten näher, mit anderen Worten, näher an Orbán als an Merkel. Dank Salvini…“
Sollen Schützen die Festung Europa bewachen?
EU-Vorsitzender Donald Tusk hat einen Plan vorgelegt, nach dem Flüchtlingslager vor den Außengrenzen der EU eingerichtet werden sollen. Europa darf seine moralischen Grenzen nicht überschreiten, warnt De Morgen:
„Viele Fragen bleiben: Welcher Staat wird bereit sein, sein Land für ein EU-Lager zu verpfänden, und für welchen Preis? Welche Spielregeln gelten: unsere oder die von libyschen Söldnern? ... Ethik ist hier nicht etwa ein Detail. Der italienische Innenminister Salvini beweist gerade, dass rechtsextremes Pack auch nach einer Vereidigung rechtsextremes Pack bleibt. Genau wie Trump erinnert uns Salvini daran, dass wir nicht nur unsere physischen, sondern vor allem auch unsere moralischen Grenzen überwachen müssen. Wenn man eine Mauer um Europa baut, ist man dann auch bereit, Schützen auf die Wachtürme zu stellen? Die Salvinis dieser Welt sicherlich. Und wir?“
Merkels rührseliger Humanismus taugt nichts
Eine schlechte Migrationspolitik hat fatale Konsequenzen, meint Andrzej Talaga vom arbeitgebernahen Thinktank WEI in Rzeczpospolita:
„Die kulturelle Kohärenz der Gesellschaft wird zerstört, Immigranten-Enklaven werden zu Kriminalitätsherden, in den islamischen Migrantenghettos entstehen Rückzugsräume für Terroristen. ... Doch weil unsere Gesellschaft schrumpft und überaltert, brauchen wir neue Bürger. Wir können diese allerdings so auswählen, dass wir die oben beschriebenen negativen Konsequenzen vermeiden. Ein sehr schlechter Ratgeber ist dabei der rührselige Humanismus, den Kanzlerin Angela Merkel gezeigt hat, als sie 2014 [sic] die Grenzen für alle Flüchtlinge geöffnet hat. Wir brauchen Immigranten, die uns ethnisch und kulturell ähnlich sind und sich schnell assimilieren.“
Wir dürfen unsere Empathie nicht verlieren
Was für eine Welt wir unseren Kindern hinterlassen, fragt angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Migrationspolitik Novi list:
„In den USA werden Migranten systematisch die Kinder weggenommen und eingesperrt, Babies ebenso wie 15-jährige Teenager. Unvorstellbar, dass das im Jahre 2018 passieren kann. ... Aber auch bei uns in Europa wird der Ruf nach der starken Hand immer lauter. Empathie gegenüber Migranten wird zur Utopie erklärt, die man wegen der realen Verhältnisse aufgeben müsse. Aber was für Menschen werden wir, wenn wir das Gefühl in uns töten, das das Leid Anderer in uns weckt? Was für ein Europa schaffen wir da für unsere Kinder, wenn wir ihnen zeigen, dass Empathie naiv, dumm, unpraktisch und zu teuer ist und einfach unsere Interessen stört?“
Merkel und Macron wollen alles bestimmen
Ziel der deutsch-französischen Migrationspolitik ist es, Frontex zu einer europäischen Grenzschutzpolizei auszubauen und ein Europäisches Amt für Migration ins Leben zu rufen, erklärt das regierungsnahe Internetportal Origo und übt sogleich Kritik:
„Ein solches System würde bedeuten, dass den Mitgliedsstaaten - im Widerspruch zu den Europäischen Verträgen - Kompetenzbereiche entzogen würden. Ihre nationale Souveränität würde geschmälert, denn nicht mehr wir würden entscheiden können, mit wem wir zusammenleben, sondern Brüssel. Dann wäre es auch ein Leichtes, die Quote durchzusetzen. Sie könnte dann auch den Staaten aufgezwungen werden, die schon mehrmals deutlich gemacht haben, dass sie kein Einwanderungsland werden wollen.“
Mittelmeerländer sollten sich zusammenschließen
Macron wird Conte folgen müssen, meint Causeur:
„Es wird Zeit, dass Frankreich das Mittelmeer dem Rhein vorzieht und die Mittelmeer-Union vorantreibt, die Angela Merkel sabotiert hat. Die erste gemeinsame Maßnahme sollte die sein, die Conte uns aufgezwungen hat: 'europäische Zentren in den Herkunfts- oder Transitländern einrichten, um die Papiere der Asylbewerber zu prüfen'. Da sich die Länder des Nordens nicht (oder, wie Großbritannien, nicht mehr) betroffen fühlen, müssen die Mittelmeerländer das Problem angehen. ... Die 15 Länder des Südens oder Ostens, die betroffen sind, müssten eine Strategie für eine minimale Einmischung des humanitären Sektors finden. Wenn sie sich zu einer gemeinsamen Herangehensweise zusammenschließen, wäre Brüssel gezwungen, ihnen zu folgen.“
Die Krise ist auch schlecht für Russland
Die Uneinigkeit über die richtige Einwanderungspolitik droht Europa in eine tiefe Krise zu treiben, befürchtet Radio Kommersant FM:
„Offensichtlich kann man das Problem nur auf eine Art lösen: den Migranten klar machen, dass sie zurückgeschickt werden und ihnen keinerlei Zahlungen versprechen. Doch werden die EU-Staaten aufgrund ihrer offensichtlichen Schwäche wohl nie eine solche Entscheidung treffen. Und das bedeutet in der Perspektive den weiteren Zerfall der Union und die Machtübernahme durch Rechte. Für Russland ist all dies nicht positiv: Die Anhänger eines 'Sonderwegs' und einer nicht-europäischen Orientierung des Landes bekommen Auftrieb. So oder so leben wir in einem europäischen Haus - und wenn dessen Wände wackeln und das Dach undicht ist, dann sind wir davon auch betroffen.“
Menschlichkeit muss an erster Stelle stehen
Bei allen Schwierigkeiten in der Migrationsdebatte darf ein Prinzip doch nie aufgegeben werden, mahnt Aamulehti:
„Zwei Pole stehen sich in der Debatte gegenüber: die Verantwortung, bedrohten und in Not geratenen Menschen zu helfen auf der einen Seite, und die Sorge um die Kosten und die Integration der Ankommenden auf der anderen. Die Migranten sind keine homogene Gruppe von Menschen und können daher in der Diskussion nicht alle in einen Topf geworfen werden. Daher müssen auch die Lösungen unterschiedlich und vielschichtig sein und die Debatte gerät leicht zu einer schrecklichen Kakofonie. ... Doch ganz gleich, wie schwierig die Lösungen auch sein mögen und wie groß die Sorge um den eigenen Staat ist, das rechtfertigt nicht, dass man vergisst, Menschen human zu behandeln.“
Bitte nicht Australien kopieren
Europas Politiker sollten sich davor hüten, eine Abschottungspolitik nach australischem Vorbild anzustreben, warnt Financial Times:
„Die australische Politik hat ihr Ziel, die Ankunft von Flüchtlingsbooten zu unterbinden, im Großen und Ganzen erreicht. Europas politische Führer könnten versucht sein, dem humanitären Argument zur Rechtfertigung dieser harten Linie etwas abzugewinnen: Weniger Flüchtlingsboote bedeuten weniger Tragödien durch Ertrinken auf hoher See. Doch Europas Politiker sollten dieser Versuchung widerstehen. Die australische Flüchtlingspolitik ist wegen ihrer Brutalität mittlerweile berühmt-berüchtigt. Im Internierungslager auf dem Inselstaat Nauru hat es Hungerstreiks, Selbstmorde und Hunderte Fälle von Missbrauchsvorwürfen gegeben. In einem zweiten Lager auf der Insel Manus fiel vor einem Jahr die Wasser- und Stromversorgung aus.“
Europa unschuldig am Flüchtlingsdrama
Es gibt für Europa keine moralische Verpflichtung, Flüchtlingen aus Afrika zu helfen, findet der langjährige Kriegs- und Auslandsreporter von Le Figaro, Renaud Girard:
„Warum sollen die Europäer dafür verantwortlich sein, dass junge afrikanische Männer sich auf gefährliche Expeditionen einlassen, um aus ihrem Land zu fliehen? Es ist sechzig Jahre her, zwei Generationen, dass die europäischen Mächte Afrika nicht mehr verwalten. Sie haben das Land verlassen, unter dem Jubel der Eliten und der afrikanischen Massen, angetrieben vom Ideal ihrer Unabhängigkeit. Die damalige Linke und ihr ewiges gutes Gewissen haben das damals gut geheißen. Sind es nun also die Europäer oder die Schlepper, die modernen Seeräubern gleich, diesen schändlichen Menschenhandel geschaffen haben?“
Merkels Weg führt ins Nichts
An eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage, wie Merkel sie anstrebt, glaubt der Tages-Anzeiger kaum noch:
„Wie in Berlin schwindet auch in der EU die Autorität der einst starken Frau. Ihre Gegner spüren ihre Schwäche und wittern Morgenluft. In Deutschland ist Innenminister Horst Seehofer Merkels Gegenspieler. Auf der europäischen Bühne hat Ungarns Viktor Orbán Verstärkung bekommen und führt die Anhänger einer reinen Abschottungspolitik an. Auch in Wien oder Rom scheint man auf ein Ende der Ära Merkel zu setzen. Geschwächt und angeschlagen knüpft Angela Merkel ihr politisches Schicksal an eine europäische Lösung in der Flüchtlingskrise. Doch im Streit um Solidarität und Lastenteilung scheinen die Gemeinsamkeiten aufgebraucht. ... Der Spielraum für einen pragmatischen Mittelweg zwischen den ideologischen Extrempositionen schwindet.“
Rom muss seine Freunde gut aussuchen
Italiens neue Regierung muss aufpassen, dass sie am Ende nicht das Nachsehen im Asylstreit hat, warnt der Diplomat Michele Valensise in La Stampa:
„Das bayerische Rezept spiegelt die Skepsis gegenüber jeglichem multilateralen Ansatz wider. Die Österreicher und die Visegrád-Länder denken genauso. In der Praxis würde aber die automatische Abschiebung von Asylbewerbern in die ersten europäischen Ankunftsländer die Zahl der Migranten erhöhen, die wir aufnehmen müssten. Denn es ist wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil von ihnen Italien durchquert hat. Sich also solidarisch mit der Linie des Souveränismus zu erklären, schützt nicht unsere legitimen Interessen, sondern schadet uns. Es wäre daher ratsam, zum gegebenen Zeitpunkt in Brüssel klar zu sagen, wo wir stehen. Jede Zweideutigkeit, ob beabsichtigt oder nicht, sollte tunlichst vermieden werden.“
Die Besserwisser machen alles noch schlimmer
Die Feindseligkeit einiger Bürger gegenüber Flüchtlingen wächst mit dem Gefühl, nur hilfloser Zuschauer in dieser Debatte zu sein, erklärt Delfi:
„Das politische System ist kein demokratisches, wenn es nicht institutionell sicherstellt, dass der in Wahlen und Referenden ausgedrückte Wille der Bürger verwirklicht wird. ... Die Macht der Parlamente, der Präsidenten und dadurch auch der Bürger wird beschränkt. Entscheidungen werden stattdessen durch technokratische Institutionen getroffen. Versuch' doch mal, der Europäischen Kommission entgegenzutreten! ... Dazu kommt auch noch die Entfremdung der Elite von den einfachen Bürgern. Die Elite denkt, sie sei besser informiert und fortgeschrittener und habe dementsprechend das Recht, Politik auch gegen die Meinung der Mehrheit zu machen.“
Sánchez oder Salvini
Beim EU-Gipfel Ende Juni wird es zum Showdown im Richtungsstreit kommen, prophezeit Chefredakteur Enric Hernàndez in El Periódico de Catalunya:
„Die Ankunft der 'Aquarius' [in Valencia] ist weder nur 'eine Momentaufnahme des solidarischen Geistes' der Spanier, wie Vize-Regierungschefin Carmen Calvo formulierte, noch, wie die Gegner der Regierung behaupten, ein opportunistischer Akt der Symbolpolitik. ... Das Angebot ist das erste humanitäre Signal Europas, seit Merkel [2015] einer Million Flüchtlinge die Türen öffnete, wofür sie bei der Wahl die Quittung bekam. ... Das Europa von Salvini oder das von Sánchez? Das ist die Frage, die der kommende EU-Gipfel klären muss, mit Merkel als Zünglein an der Waage. Der zweifelnde Macron, der jetzt anbietet, einen Teil der Aquarius-Flüchtlinge aufzunehmen, muss entscheiden, auf welche Seite er sich schlägt.“
Jetzt bei Warschau und Budapest entschuldigen
Endlich setzt sich der Kurs Ungarns und Polens in der Migrationsfrage durch, jubelt wPolityce.pl:
„Man sieht deutlich, dass es nichts geändert hat, den Bedürftigen die Tore Europas zu öffnen. Millionen wurden aufgenommen, aber in der Schlange warten weitere Millionen, die ein besseres Leben wollen. ... [In Europa] fängt man an, das ungarische und polnische Konzept als kluge Alternative zu sehen: Hilfe vor Ort, den Schutz der EU-Außengrenzen und den Respekt vor der Kohärenz und der Identität der Nationalstaaten. ... Deshalb gibt es Politiker und Publizisten - sowohl im Land als auch in Berlin und Brüssel - die heute nur eines tun können: sich bei Polen und Ungarn entschuldigen. Sie haben viele Worte gesagt, auch Beleidigungen, die sie zurücknehmen sollten. Brutal haben sie belehrt und moralisiert, in einer Angelegenheit, in der sie sich geirrt haben.“
Angstmacher dürfen sich nicht durchsetzen
Der neue Premier Italiens schürt mit falschen Zahlen die Angst vor Migranten, kritisiert Le Monde:
„Wenn man Salvini glaubt, sind die Einwanderungszahlen in Europa noch immer auf dem Höchststand von 2015. ... Diese Illusion zu nähren führt in die Irre. ... Die italienische Mitte-links-Regierung hat es geschafft, Ausreisen aus Libyen drastisch zu reduzieren, indem sie mehr oder weniger offizielle Abkommen mit den Herrschenden und den aufständischen Gruppen des Landes geschlossen hat. ... Der damalige Innenminister, Marco Minitti, hat sich bemüht, den extremistischen Parteien das Wasser abzugraben, zuvorderst der Lega von Salvini. Das hat nicht gereicht. Aber das ist noch lange kein Grund, den europäischen Rechtsextremen in die Falle zu gehen. Die werden nämlich bei der Europawahl 2019 versuchen, aus der Angst Profit zu schlagen.“