Vertrag von Aachen: Kitt oder neuer Zündstoff?
Angela Merkel und Emmanuel Macron haben in Aachen den neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag unterschrieben. Kommentatoren mutmaßen über die Motive der beiden Politiker und fürchten, dass das, was als Bollwerk gegen den Populismus gedacht ist, einen Kollateralschaden nach sich ziehen könnte.
Gefahr der Spaltung Europas wird noch größer
Dass der Aachener Vertrag Europa spalten wird, fürchtet Duma:
„Aus bulgarischer Sicht besteht die größte Gefahr darin, dass die Pläne über ein 'Europa der zwei Geschwindigkeiten', die schon lange von Nord- und Westeuropa gehegt werden, Gestalt annehmen. ... Offiziell wird die enge Integration zwischen Berlin und Paris als Bollwerk gegen den Populismus dargestellt, der sich im Süden und Osten Europas breit macht. Mit vereinten Kräften wollen die beiden Länder eine gemeinsame politische Front in europäischen Fragen errichten und so den Widerstand der anderen Länder überwinden. Wäre es, angesichts der unüberbrückbaren ideologischen Unterschiede zwischen den beiden Lagern, nicht wesentlich realistischer, dass sie sich in zwei voneinander getrennte Europas aufspalten?“
Kampfansage gegen anachronistischen Nationalismus
Von einem wichtigen symbolischen Schritt spricht Dnevnik:
„Die Erneuerung der Freundschaft wurde von zwei politisch schwachen Staats- und Regierungschefs beschlossen, deren Möglichkeiten, Europa voranzubringen, sehr begrenzt wirken. Doch die Symbolik des Vertrags überwindet die Vergänglichkeit der Karriere von Politikern. Berlin und Paris machen deutlich, dass sie nicht zulassen werden, dass die Zeit in Europa zurückgedreht wird. Ihr Freundschaftsvertrag ist eine Kampfansage gegen Populismus und Nationalismus. Es werden auch andere EU-Mitglieder eingeladen, sich für die Stärkung der EU einzusetzen. Wie das Dilemma endet, dass das Konzept zweier Geschwindigkeiten in Europa langfristig verhängnisvoll ist, wird die politische Realität zeigen.“
Merkel und Macron suchten schnellen Erfolg
Dass Merkel und Macron den Freundschaftsvertrag auch für ihre Karrieren brauchen, glaubt Mariann Öry, Chefin des Auslandsressorts von Magyar Hírlap:
„Angela Merkel nähert sich dem Ende ihrer politischen Karriere und möchte noch etwas Bleibendes schaffen. Mit ihrem Rücktritt von der Parteispitze und ihrer Verbündeten Annegret Kramp-Karrenbauer als Nachfolgerin hat sie natürlich dafür gesorgt, dass wir nicht von einem unschönen Sturz, sondern eher von einem geordneten Rückzug sprechen. Der Weg dahin, mit einer Serie von Wahlniederlagen und dem quälenden Zustandekommen der Koalition, war von ihr so allerdings nicht geplant. Und Macron steht wegen seiner geringen Beliebtheit und den Protesten der Gelbwesten unter Druck, die wieder an Kraft gewinnen und in einer tiefen Unzufriedenheit der Gesellschaft wurzeln.“
Abkommen vertieft Gräben
Mit ihrem Freundschaftsvertrag schrecken Deutschland und Frankreich andere Länder ab, fürchtet Giorgio Ferrari, Experte für internationale Politik, in Avvenire:
„Man fragt sich, ob diese Neuauflage der deutsch-französischen Achse nicht dazu führt, dass die anderen 25 Länder, die ausgeschlossen sind, verärgert sein werden und sich in die Enge getrieben fühlen. Angefangen bei Italien, das einst an den Gründungsveranstaltungen teilnahm. Ganz zu schweigen vom Visegrád-Quartett, dessen Misstrauen gegenüber der 'liberalen Demokratie' immer deutlicher wird. ... Manch Beobachter fragt sich gar, ob die bevorstehende Europawahl weniger zum Kampf der liberalen Demokratien gegen die fremdenfeindliche und populistische Welle wird, denn zu einer Art Referendum über das deutsch-französische Europa. Einen größeren Schaden, sollte dies der Fall sein, könnte es nicht geben.“
Mehr Chance als Gefahr
Solchen Befürchtungen anderer Länder tritt Denik N jedoch entgegen:
„Donald Trump im Weißen Haus, die Verschlechterung der Beziehungen zwischen Europa und Russland und das wirtschaftliche, militärische und politische Wachstum Chinas: all das zeigt, dass Europa aus dem bequemen Zustand aufwachen muss, in dem es sich seit dem Ende des Kalten Kriegs befindet. Da sich die Briten für den Brexit entschieden haben, ist es logisch, dass Frankreich und Deutschland damit beginnen. ... Obwohl beide Länder alle übrigen Europäer einladen, gibt es eine Reihe negativer Reaktionen und Sorgen über eine Hegemonie von Berlin und Paris. Beide müssen deshalb innerhalb der EU verdeutlichen, dass ihre Aktivitäten nicht gefährlich sind, sondern vielmehr eine Chance für die Zukunft darstellen.“
Deutschland will Osteuropa nicht ausschließen
Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Herangehensweise an die neuen EU-Länder, macht Azonnali aus:
„Für Frankreich sind die neuen osteuropäischen Mitgliedsstaaten weder politisch, noch wirtschaftlich oder kulturell besonders wichtig. Die französische Wirtschaft ist nicht so präsent in diesen Ländern und die französische Sprache wird dort außer in Rumänien kaum gesprochen. Deutschlands Politiker und Wirtschaftsvertreter hingegen wollen die Ostereuropäer nicht aufgeben, da sie zwar mitunter renitent sind, aber ansonsten - wie auch das 'Sklavengesetz' von Viktor Orbán zeigt - eine den deutschen Wirtschaftsinteressen entsprechende Politik machen.“
Paris und Berlin haben historische Verantwortung
Im Vorfeld wurde das Papier von Marine Le Pen, der Vorsitzenden des rechtsextremen Rassemblement National, als Ausverkauf der französischen Souveränität geschmäht. Das zeigt, wie wichtig der Vertrag heute ist, findet La Vanguardia:
„Die Bedeutung des gestern unterzeichneten Abkommens wird paradoxerweise durch die heftige Kritik der rechtsextremen Parteien deutlich, die nicht davor zurückschreckten, Lügen zu säen und Verwirrung über die vermeintlich verlorene Souveränität zu stiften. Wer den Wert der deutsch-französischen Aussöhnung ignoriert, wird - wie Macron sagt - zum Komplizen der Verbrechen der Vergangenheit. Allen voran Deutschland und Frankreich haben die historische Verantwortung, ihre Differenzen zu überwinden, ihre Allianz zu stärken und so gemeinsam das Projekt Europa mit größerer Intensität und neuem Enthusiasmus voranzutreiben.“
Alltagsprobleme bleiben ungelöst
Der Vertrag geht zu weit an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei, kritisiert das Handelsblatt:
„Macron musste lächeln, als eine Deutsche ihn beim Bürgerdialog fragte, warum die Politik von 'intermodalem Verkehr' spreche, man in vielen französischen Zügen aber keine Fahrräder mitnehmen könne. Eine banale Frage? Nein, eine realistische. ... Deutschland und Frankreich stehen vor denselben Problemen. Nicht alle Antworten können deutsch-französisch sein. Viele sind lokal oder regional, übergreifend sollten sie aber sein. Wenn man als Mittelständler im Nachbarland aktiv werden will, aber an der Bürokratie scheitert. Oder als Start-up eher in den USA als in Europa expandieren kann. Oder als Grenzgänger im Ausland arbeitet, aber die Sozialversicherung zum Albtraum wird. Seit Jahren werden die Probleme beschrieben. Können wir sie jetzt bitte endlich lösen?“
Schwach in der Substanz
Dem hohen Anspruch wird der Vertrag nicht gerecht, urteilt Paolo Valentino, Deutschland-Experte von Corriere della Sera:
„Der Anspruch der Initiative ist klar: Angesichts des Brexit, chaotisch und voller Ungewissheit für alle, und einer Welle des Populismus, die die Grundwerte und die Daseinsberechtigung der Union in Frage stellt, will der Aachener Vertrag ein Signal an die europäischen Partner senden und als Plattform für die Wiederbelebung der europäischen Idee dienen. ... Doch der Text ist das Resultat langer und schwieriger Verhandlungen - und ein Kompromiss ohne Qualität. Er ist stark in seiner Symbolik (Zweisprachigkeit oder stärkere Integration von Grenzgebieten), aber eher schwach in der Substanz.“
Berlin ist falscher Partner für Macron
Mit der zögerlichen deutschen Regierung allein wird Paris europapolitisch nicht weit kommen, meint Financial Times:
„Insgesamt fehlt es diesem Vertrag an den fachlichen und praktischen Details, die Frankreichs Verteidigungspakt mit Großbritannien aus dem Jahr 2010 auszeichnen. Das zeugt von deutscher Zurückhaltung. In der Tat ist ein Mangel an deutschem Ehrgeiz in allen Bereichen offensichtlich. Der Euro wird kaum erwähnt, bis auf die Beteuerung, dass die beiden Länder die 'Währungsunion stärken und vertiefen'. ... Emmanuel Macron hat vermutlich zu viel in Berlin investiert und zu wenig getan, um andere Regierungen zu umwerben. Das betrifft den liberalen, aber finanzpolitisch harten Norden genauso wie den pro-europäischen Süden.“
Messlatte nicht unerreichbar hoch legen
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nimmt den Vertrag gegen die Kritik in Schutz, er sei zu wenig ambitioniert:
„[D]ass die Vertragsbetreiber keine Luftschlösser bauen, spricht für ihren Realismus. Wenn sie wirklich mehr in die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik investieren, wie sie es nun vertraglich versprechen - politisch, personell, materiell -, wäre das viel wert. Und nichts ist falsch daran, die alltagsweltliche Zusammenarbeit in grenznahen Regionen zu verbessern. Man sollte die Messlatte nicht unerreichbar hoch halten. ... Wenn Paris und Berlin es schaffen, durch eine vernünftige Politik den Zusammenhalt in der EU wahren zu helfen und Zukunftsaufgaben zu bewältigen, wäre das keine schlechte Leistung. Die Frage ist nur, ob die Führungen beider Länder dazu in der Lage sind.“
Ungeheurer Mangel an Transparenz
Am Beispiel des neuen Freundschaftsvertrags wird deutlich, wie wenig sich Frankreichs Präsident wirklich um die Meinung seiner Landsleute schert, wettert Jean-Frédéric Poisson, Vorsitzender der Christdemokratischen Partei, in Le Figaro:
„Wurde der Aachener Vertrag, der laut Élysée-Palast 'die zwei Länder auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereiten' soll, den Franzosen zur Abstimmung unterbreitet, oder überhaupt vorgelegt? Nein. Der Text ist nicht einmal auffindbar. Wen wundert es da, dass in den sozialen Netzwerken Fake News darüber kursieren? Dieser völlige Mangel an Transparenz erscheint angesichts von Macrons Ankündigung, nun im Rahmen des Bürgerdialogs die Anliegen der Franzosen anhören zu wollen, grotesk und in einer gesunden Demokratie unvorstellbar.“
Berlins Traum von UN-Reform ist naiv
Dass Berlin in dem Vertrag nicht unbedingt die richtigen Prioritäten setzt, glaubt NRC Handelsblad:
„Werden die Deutschen nun doch ein bisschen französischer denken? Angesichts von Trumps Prioritäten kann das nicht schaden. Er macht schon lange keinen Hehl daraus, dass die ganze Nato seiner Ansicht nach nicht sein muss. Dennoch spricht aus dem Vertrag auch deutsche Naivität, die nicht mehr zeitgemäß ist. Frankreich und Deutschland versprechen, sich für einen ständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat stark zu machen. Langfristig soll dieser dann ein EU-Sitz werden. Doch außer Deutschland spricht niemand mehr über so einen EU-Sitz. ... Der Weltsicherheitsrat ist in der Tat ein Spiegel der Welt von 1945 und das ist langfristig unhaltbar. Doch angesichts der zunehmenden Spannungen in der Welt ist es nicht klug, sich gerade jetzt auf eine Reform des Gremiums zu versteifen.“