Wohin mit den afghanischen Geflüchteten?
Der Streit darüber, wer die Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen soll, ist in vollem Gange. Die EU-Staaten konnten sich bislang auf kein gemeinsames Vorgehen einigen. In jedem Fall will man Nachbarstaaten in der Region mit Geld unterstützen, damit diese fliehende Afghanen aufnehmen. Eine Lösung, die Kommentatoren nicht überzeugt.
Erbärmliche Bedingungen
Abkommen der EU mit Afghanistans Nachbarländern bringen den geflüchteten Afghanen gar nichts, betont Népszava:
„Die Strategie der EU ist jetzt, den Flüchtlingen in den Nachbarländern Afghanistans Hilfe anzubieten. Im Gegenzug will die EU diesen Ländern Förderungen gewähren. Das heißt, dass sie ähnliche Abkommen mit ihnen schließen würde, wie 2016 mit der Türkei. Klar ist: In Pakistan oder im Iran erwarten die Afghanen erbärmliche Bedingungen, egal, was für Abkommen geschlossen werden. Es scheint, dass sich die Geschichte in diesen Ländern wiederholt.“
Die Frage stellt sich nicht
Einen ganz klaren Standpunkt vertritt Sozialarbeiterin Coraline Caliman in Le Soir:
„Seit der Eroberung Kabuls durch die Taliban am 15. August ist Afghanistan in den Nachrichten. Und was sind das für Schlagzeilen! Es geht vor allem anderen um unsere Sorgen und um unsere Interessen - und nicht um irgendeine Solidarität mit der afghanischen Bevölkerung in Not. Die meisten Massenmedien berichten zuerst über die Kosten der Intervention ausländischer Truppen ('all das nur dafür...'). ... Als nächstes sorgen sie sich um das Image des Westens, dann wird die 'Bedrohung' durch eine hypothetische Einwanderungswelle in Europa diskutiert. Die Aufnahme unserer Mitmenschen sollte nicht an Bedingungen geknüpft sein. Sie sollte einfach universell gelten. Mit anderen Worten: Die moralische Pflicht zur Gastfreundschaft sollte nicht diskutiert werden.“
Ein afghanisches Regiment in Großbritannien
Für die Integration der aus Afghanistan Geflüchteten in Großbritannien sind nun kreative Ideen vonnöten, erklärt The Daily Telegraph:
„Andere Länder bieten Neuankömmlingen sogenannte 'Begrüßungspakete' an. Dazu gehören kostenloser Sprachunterricht und Kurse zu gesellschaftlichem Engagement. ... Eine weitere Idee ist, aus den Hunderten Evakuierten der afghanischen Spezialeinheiten ein Regiment der britischen Armee aufzubauen. Die Spezialeinheiten wurden von den Briten ausgebildet und haben sich laut Berichten tapfer und gut an der Seite unserer Truppe geschlagen. Einige Parlamentarier und frühere Offiziere haben vorgeschlagen, sie zu einer eigenständigen nicht-britischen Einheit zu formen - ähnlich wie die der Gurkhas [nepalesische Soldaten im Dienst unter anderem der British Army].“
Das Scheckbuch hilft diesmal nicht weiter
Die Nachbarstaaten Afghanistans werden sich dagegen wehren, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen, glaubt der Tages-Anzeiger:
„Der Iran, eine der Routen der Flüchtenden auf dem Weg in die Türkei und nach Europa? Die Islamische Republik wird sich abschotten. ... Auch die autoritären Führer der Muslim-Staaten Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan - und mit ihnen ihre Vormacht Moskau - werden Nein sagen. ... Was die Afghanistan-Flüchtendenfrage angeht, werden die USA und die EU sich mehr einfallen lassen müssen, als dichtzumachen und gleichzeitig mit dem Scheckbuch zu wedeln. Man wird mit Moskau und Ankara reden müssen. Die Lösungen, die diese Regierungen anbieten, werden Europa aber nicht gefallen.“
Kollateralschaden Europa
Für Večer ist klar, wer die Scherben des Einsatzes in Afghanistan zusammenkehren muss:
„Hier ist die Europäische Union, militärisch gesprochen, ein Kollateralschaden. Flüchtlinge, die nicht unter der Diktatur der strengen Scharia leben wollen, können eben nicht über den Ozean schwimmen. Deshalb werden sie über die Landesgrenze fliehen, aber nicht nach Osten, sondern Richtung Westen. Das heißt in die EU. Dasselbe Europa, das 2015 und 2016 die Macht der Migrantenströme kennenlernte und sich schon damals spaltete. ... In Länder, die Mitgefühl zeigten, und solche, die egoistisch waren.“
Athen kann nicht auf Berlins Hilfe hoffen
Griechenland wird mal wieder im Stich gelassen, fürchtet Lifo:
„Die Flüchtlinge in Afghanistan haben für die Deutschen trotz der Dringlichkeit derzeit keine Priorität. ... Fest steht, dass sie nicht wollen, dass Flüchtlingswellen ihren Wahlkampf stören. Vor allem Merkels Partei will es nicht. Immerhin hat Deutschland die Grenzen geschlossen, auch die Balkanroute ist dicht. Das heißt, sollte Erdoğan die Grenzen wieder öffnen, wird nur Griechenland unter Druck geraten. Aber hier hat man es mit einer riesigen humanitären Krise zu tun und es ist unmoralisch für die internationale Gemeinschaft, die bedrohten Afghanen ihrem Schicksal zu überlassen. Und natürlich ist es unmoralisch für die Europäische Union, Griechenland allein zu lassen mit einem globalen Problem, dem es bei weitem nicht gewachsen ist.“
Unser aller Schande
Der Historiker Maciej Janowski klagt in Gazeta Wyborcza über die mangelnde Hilfsbereitschaft der polnischen Regierung für Flüchtlinge aus Afghanistan:
„Wenn unsere albernen politischen Streitigkeiten in vielen Jahren vorbei sein werden, wird Angela Merkels Entscheidung von 2015, Flüchtlinge aufzunehmen, ihr größtes Verdienst sein, und die Untätigkeit anderer europäischer Politiker wird ihre Schande sein. Und die Tatsache, dass wir unsere Politiker nicht zum Handeln zwingen können, wird zur Schande für mich und für uns alle, die wir bequem in unseren Sesseln sitzen und auf unsere Bildschirme starren.“
Verlogene Politik
Angesichts der Tatenlosigkeit wirken die besorgten Äußerungen der deutschen Regierung heuchlerisch, findet Evrensel:
„Erst nachdem klar war, dass Kabul fallen würde, sah sich Innenminister Horst Seehofer zu einer Kehrtwende gezwungen und erklärte, Abschiebungen von afghanischen Asylbewerbern für eine gewisse Zeit auszusetzen. Nachdem sich die Situation so gestaltet hat, sind die Aussagen, dass Afghanistan eine menschliche Tragödie sei und man helfen müsse, nichts als Heuchelei. In den anderen EU-Staaten ist die Situation nicht viel anders.“
Lunte des Rechtspopulismus wieder entzündet
Nun werden die rechtspopulistischen Parteien in Europa Aufwind haben, fürchtet Duma:
„Die Worte des Präsidenten des EU-Parlaments David Sassoli, dass Europa verpflichtet sei, Afghanen aufzunehmen, könnten der Funke sein, der die Lunte des Rechtspopulismus wieder entzündet. Es wird wieder die Rede davon sein, wie Migranten von Sozialleistungen profitieren, wie die Männer aus dem Nahen Osten eine Bedrohung für europäische Frauen sind, die bald alle verschleiert herumlaufen müssen. Die meisten Menschen fallen leicht darauf herein. Ein paar Falschnachrichten genügen, um die ohnehin von Covid-19 Verängstigten in die Arme ihrer 'Retter', sprich der Nationalisten, laufen zu lassen.“
Der Überlebenskampf geht weiter
Dass die Mehrheit der Afghanen nun ihre eigene Überlebensstrategie finden muss, beschreibt in Libertatea Journalist Adelin Petrișor. Er war von 2002 bis 2018 immer wieder im Land:
„Ich erinnere mich, was mir ein alter Mann in Lugar 2010 geantwortet hat, als ich ihn fragte, was er von den Nato-Militärs halte. Der Mann mit dem weißen, langen Bart und den kalten, blauen Augen starrte mich an und sagte: 'Einer meiner Söhne ist Übersetzer für die Amerikaner, der andere kämpft für die Taliban. Ihr geht, wir bleiben hier und müssen unser Überleben sichern.' Ja, sehr wahrscheinlich, werden sich die meisten Afghanen nicht an die Militärflugzeuge hängen, sondern versuchen, ins Boot der jetzigen Machthaber zu springen. Einige werden es schaffen, andere nicht...“
EU knickt sofort ein
Aus Angst vor den Flüchtlingen ist die EU gar bereit, mit den Taliban zu verhandeln, schimpft Il Manifesto:
„Kanada kündigt an, 20.000 Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Und sogar Kosovo, Albanien und Nordmazedonien erklären sich bereit, tausend Flüchtlinge aufzunehmen, wenn auch nur vorübergehend. Die Europäische Union indes bereitet sich darauf vor, sich mit den Taliban auseinanderzusetzen, ohne auch nur abzuwarten, ob die in diesen Stunden gemachten Versprechen, keine Rache zu üben, eingehalten werden. Und setzt sich derweil dafür ein, dass diejenigen, die aus Afghanistan fliehen, von den Nachbarländern aufgenommen werden.“
Warteschleife auf dem Westbalkan
Jutarnji list analysiert die Situation:
„Die EU wird Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen müssen. Sie wird auch anderen Staaten helfen müssen, in die die Menschen aus Afghanistan fliehen werden. Die Amerikaner werden das leichter regeln. Sie werden nur diejenigen in ihr Land lassen, die strenge Sicherheitsüberprüfungen überstehen, die mindestens ein Jahr dauern werden. Sie haben schon 'Parkplätze' für diejenigen gefunden, die auf eine Einreiseerlaubnis warten: bisher Albanien, Kosovo und Nordmazedonien. ... Was in Afghanistan geschehen ist, ist ein Fiasko des Westens und alles, was noch folgen wird, ist nur ein verzweifelter Versuch, das Gesicht zu wahren.“
Asylpraxis dringend überprüfen
Eine schnelle Revision der Praxis der Asylvergabe für Afghanen fordert Marco Impagliazzo, Professor für Zeitgeschichte, in Avvenire:
„Wir müssen uns fragen, ob es nicht notwendig ist, in allen europäischen Ländern die Lage der Afghanen zu erleichtern, die sich bereits auf unserem Kontinent befinden. Einige Vorschläge: Erstens sollten alle Ausweisungen ausgesetzt werden, die bereits verfügt wurden. Zweitens sollte das Kriterium der Unzulässigkeit [von Asylanträgen] abgeschafft werden, das sich aus dem Grundsatz ergibt, der in Griechenland für afghanische Staatsbürger gilt, wonach die Türkei ein sicherer Drittstaat ist. In den Lagern, auf den Inseln und in den Städten Griechenlands befinden sich inzwischen Tausende von Afghanen, deren Anträge nach diesem Grundsatz nicht einmal gestellt werden können. Drittens müssen abgelehnte Anträge angesichts der ernsten Lage in Afghanistan erneut geprüft werden.“
Athen sollte aktiv werden
Guten Grund für die griechische Regierung, sich aktiv an Lösungen für die einsetzende Migration beteiligen, sieht Kathimerini:
„Bei der Reaktion Brüssels sollte Athen eine führende Rolle einnehmen, zu einem Zeitpunkt, an dem die EU eher überrascht und unvorbereitet erscheint. Griechenland hat auch allen Grund, sich dafür einzusetzen, der benachbarten Türkei eine gezielte Unterstützung anzubieten für die sofortige und wirksame Reaktion auf eine mögliche Flüchtlingswelle, von der ein Teil unweigerlich griechisches Territorium erreichen wird. Die positive Haltung Athens zu einem wichtigen Thema, das dem türkischen Präsidenten Erdoğan in naher Zukunft große Sorgen bereiten wird, kann die bilateralen Beziehungen nur positiv beeinflussen.“
Nur Frauen und Kinder!
Genaue Vorstellungen davon, wer nun von westlichen Ländern aufgenommen werden soll, hat Feministin Alice Schwarzer in einem Gastkommentar für Die Presse:
„Afghanische Terroristen werden sehr bald auch bei uns sein. Sie werden sich, gezielter denn je zuvor, unter die zu erwartenden Flüchtenden mischen. Ein Grund mehr, jetzt nur Frauen und Kinder aus Afghanistan aufzunehmen! ... Das könnte nicht die Ehefrau auf dem Land retten, die ohne männliche Begleitung schon gar nicht mehr das Haus verlassen darf. Aber es könnte den vielen Frauen nutzen, die sich in den Städten an die Öffentlichkeit gewagt haben. Die Lehrerinnen, Journalistinnen, Politikerinnen und Frauenrechtlerinnen; kurzum alle, die sich, ermutigt vom Westen, emanzipiert haben. Ihnen müsste ein Weg angeboten werden, zu uns zu kommen - und vielleicht eines Tages sogar zurückkehren zu können.“
Wenn die letzte Hoffnung erlischt
An die Menschen, die sich am 11. September aus den brennenden Twin Towers stürzten, erinnert sich Corriere della Sera:
„Es verstößt gegen die erste im genetischen Code verankerte Regel: das Leben um jeden Preis zu erhalten. ... Doch der Mensch hat einen Punkt erreicht, der jenseits der Grenzen unserer Genetik liegt, einen Punkt, an dem alle Überlegungen und Wahrscheinlichkeiten ihren Wert verlieren. Die Geister der Gegenwart, die ihn überwältigen, haben die Oberhand. Und so stürzt man sich von einem Wolkenkratzer, wohl wissend, dass kein Engel einen auffangen wird. Oder man klammert sich an das Fahrgestell eines startenden Flugzeugs, wohl wissend, dass die Hände der Wucht der Luft nicht standhalten und sie einen zwingen wird, loszulassen, wie ein Stein zu fallen und am Boden zu zerschellen.“
Für Frauen gibt es kein Entkommen
Darauf, dass am Flughafen Kabul und unter geflohenen Afghanen in anderen Ländern kaum Frauen zu sehen sind, lenkt Hürriyet das Augenmerk:
„Afghanistan ist unter den gegebenen Umständen eine geschlossene Gesellschaft. ... Frauen gehen nicht einfach auf die Straße. Es gibt keine gesellschaftliche Atmosphäre, die es Frauen erlauben würde, sich als Flüchtlinge auf den Weg zu machen oder sich in das Chaos am Flughafen zu begeben. Afghanistan ist diesbezüglich nicht wie Syrien. Die Lage der Frauen ist deshalb sehr tragisch. Sie befinden sich in einem Kerker, aus dem sie nicht einmal versuchen können zu entkommen.“
Besser vorbereitet sein als bei Syrien
Europa muss jetzt planen, wie es mit einer neuen Fluchtbewegung umgeht, mahnt Ethnos:
„Es wird sicherlich einen großen Zustrom von Flüchtlingen aus Afghanistan geben. Vor allem, wenn sich die Situation zu einem Bürgerkrieg entwickelt. Einige Beobachter sagen, dass der Zustrom vom Ausmaß her an den aus Syrien heranreichen könnte. Als erste Länder werden der Iran und die Türkei betroffen sein. Schwillt der Zustrom an, wird auch Europa einschließlich Griechenland betroffen sein. ... Dieses humanitäre Problem muss sensibel und planvoll angegangen werden. Die von der Türkei gebaute Mauer an der Grenze zum Iran reicht nicht aus, um sich dem Problem zu stellen. Die Europäische Union darf sich nicht überraschen lassen, wie es bei Syrien der Fall war. “
Erdoğan sitzt erneut am Hebel
Dass der türkische Präsident Erdoğan die einsetzende Flüchtlingswelle erneut als Druckmittel nutzen könnte, befürchtet Birgün:
„Pakistan, Indien und Iran und dann auch die Türkei werden betroffen sein. Auch wenn die USA und ihre Alliierten für lokales Personal und deren Familien Aufenthalte in den USA, Kanada und Großbritannien organisieren, muss man in einer Übergangsphase mit Flüchtlingsströmen in die Türkei rechnen. Erdoğan könnte auch versuchen, die Flüchtlinge in Verhandlungen mit Washington als Trumpf auf dem Tisch zu belassen.“