Ego oder Solidarität - wie verändert uns das Virus?

Die Covid-19-Pandemie stellt Europas Wirtschaft und Gesellschaft auf eine harte Probe: Krankenhäuser müssen Patienten abweisen, Schulen, Kultureinrichtungen und Grenzen wurden geschlossen, ganze Branchen sind lahmgelegt - eine Herausforderung für die ganze Bevölkerung. Kommentatoren loten aus, wie das Virus das Denken und Handeln bei Politikern, Unternehmern und Bürgern verändert.

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Avvenire (IT) /

Jeder für sich, alle zusammen

Millionen Italiener müssen wegen des Coronavirus zu Hause bleiben - doch sie musizieren gemeinsam auf den Balkonen und spenden den Ärzten Beifall. Avvenire freut sich über diesen Patriotismus:

„Wir respektieren die Regeln, die für die Gesundheit jedes Einzelnen gelten, wir stellen uns in einer Reihe mit Abstand zueinander außerhalb des Supermarktes auf. Und das nicht, weil Sanktionen drohen, sondern weil wir wissen, dass dies die einzige Waffe ist, die wir haben, um zu gewinnen. Wir sind Bürger, nicht Untertanen. Was für ein Stolz steckt hinter dem Applaus für Ärzte und Krankenschwestern, für die Polizeikräfte. ... Sie sind heute unsere Champions, unsere Nationalmannschaft. Wie schön ist es, so viele Italiener zu sehen, die von Balkon zu Balkon lauthals die Nationalhymne, 'Nel blu dipinto di blu', 'Azzurro' oder 'Viva l'Italia' singen.“

De Volkskrant (NL) /

Das Comeback des Staats

Die Pandemie hat die Kräfteverhältnisse zwischen Politik und Wirtschaft wieder gerade gerückt, konstatiert Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp zufrieden:

„Der Staat ist wieder zurück. Als Hüter der Bürger und des allgemeinen Interesses, als Retter des Landes und als großzügiger Geldgeber für Betriebe. ... [Die Kreditkrise von 2008] führte nicht zu einer wesentlichen Veränderung des neoliberalen Wirtschaftsparadigmas, des heiligen Glaubens an den Markt und die heilsame Wirkung des Individualismus und Eigeninteresses. Der freie Markt funktioniert gut, solange Kohle verdient werden kann, aber in der Krise ist er weit weg. Dann müssen Regierungen die Kastanien aus dem Feuer holen. ... Aber jetzt gibt das Coronavirus diesem Prinzip hoffentlich den finalen Todesstoß.“

Le Point (FR) /

Macron plötzlich auf Linkskurs

Die bedingungslose staatliche Unterstützung für Gesundheitssystem und Wirtschaft, die Frankreichs Präsident am Donnerstag in einer TV-Ansprache angekündigt hat, bedeuten einen krassen Bruch mit seiner bisherigen Politik, konstatiert Le Point:

„Covid-19 hat gerade ein weiteres Opfer gefordert, und zwar den sozialliberalen Globalisierungsbefürworter Emmanuel Macron, der sich nunmehr für eine Stärkung des Wohlfahrtsstaats ausspricht, die Marktwirtschaft infrage stellt, den Nutzen des Protektionismus preist und nicht einmal mehr zögert, die Politik der EZB zu kritisieren, die er als äußerst unzureichend beurteilt. Hörte man dem Staatschef Donnerstagabend zu, konnte sich sogar fragen, ob die Sozialisten nicht endlich einen neuen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl gefunden haben.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Prüfung für das westliche Wertesystem

Der Ethikprofessor Martin Booms denkt in der NZZ über die Folgen der Krise für eine bereits verunsicherte westlich-liberale Gesellschaft nach:

„[D]ie Corona-Krise wird sich nur bewältigen lassen auf dem Boden eines Werteverständnisses, das das Eigeninteresse gerade dadurch befördert sieht, dass es sich am Gemeininteresse orientiert - eine Wertevorstellung, die ursprünglich sowohl der liberalen Marktordnung als auch dem politischen und gesellschaftlichen Liberalismus als Ausdrucksformen eines umfassenden Humanismus eingeschrieben war. ... Gelingt es, sich auf die ... Fundamente des westlich-liberalen Verständnisses zurückzubesinnen, liegt am Ende in dem biologischen Problem eine gesellschaftliche Chance.“

Upsala Nya Tidning (SE) /

Gegenseitiges Belauern

Upsala Nya Tidning befürchtet, dass die Krise dem blanken Egoismus Tür und Tor öffnet:

„Die psychologischen Effekte einer Pandemie sind in Film und Literatur vielfach beschrieben worden. Albert Camus' Klassiker 'Die Pest' verkauft sich in den letzten Wochen bestens. Wenn eine ansteckende Krankheit in großem Umfang ausbricht, kann ein schrittweises Abnehmen des Vertrauens in andere die Folge sein. Reiche verbarrikadieren sich in ihren Festungen, Halb-Reiche bekommen instinktiv Lust, sich im Sommerhaus einzuschließen. Die Übriggebliebenen schleichen zwischen Wohnung und Lebensmittelgeschäft hin und her und belauern sich: Ist da jemand angesteckt oder irgendwie seltsam? Hinzu kommt die Einsicht von der Endlichkeit der Ressourcen, wenn die Gesellschaft dicht macht. ... Nur fünf Büchsen Ravioli im Laden? Da nehme ich alle fünf, der Nachbar, der nach mir kommt, geht leer aus.“

La Repubblica (IT) /

Grausame Selektion

In italienischen Krankenhäusern ist die Versorgungssituation jetzt schon kritisch. Alte Menschen werden dem Virus quasi ausgeliefert, klagt Kolumnist Ezio Mauro in La Repubblica:

„Ein Schritt weiter, und man kommt zu dem Prozess der 'Auslese' zwischen zu rettenden und nicht mehr zu rettenden Patienten. … Ärzte stehen jeden Tag vor solchen Entscheidungen, bewerten den Zustand des Patienten und die Fortsetzung der Therapien. Eine andere Sache aber ist die Generationsselektion, die hier stattfindet, ohne dass das Land innehält und versucht, den Konflikt zwischen Vätern und Söhnen zu begreifen; zwischen dem absoluten Wert eines Lebens und der Werteskala eines Virus, die das Alter zu einer Schuld oder einer Last werden lässt. … Das Virus betrifft zwar das Individuum, aber es greift auch die Gesellschaft an und schwächt deren Zusammenhalt.“

Dnevnik (BG) /

Corona-Angst könnte die Menschheit verändern

Dnevnik sieht eine läuternde Wirkung der Coronavirus-Pandemie, die zufällig mit der großen orthodoxen Fastenzeit zusammenfällt:

„Die große [orthodoxe] Fastenzeit [vom 2. März bis 18. April] wird diesmal eine ganz besondere Herausforderung - sowohl für die Gläubigen als auch für die Ungläubigen unter uns. Die Angst vor dem Tod verwandelt sich von einem individuellen in ein kollektives Problem. Sie ist eine gemeinsame Bedrohung, die mehr von uns abverlangt als die physische Quarantäne von 40 Tagen. Die Frage ist nicht nur, was in den kommenden 40 Tagen mit uns allen und der Welt passieren wird. Genauso wichtig ist die Frage, wie uns diese Zeit des Leidens verändern wird. Welche Art von neuen Menschen werden hinter den Masken der Angst hervorkommen?“

Die Presse (AT) /

Eltern nicht alleine lassen

Nach der Schließung aller Schulen lässt Österreich die Eltern mit der Kinderbetreuung alleine, meint Die Presse:

„Es ist ein drastischer Schritt, den die Bundesregierung am Mittwoch mit der vorübergehenden Schließung aller Schulen gemacht hat. Wenn man sich aber die jüngsten Berichte aus Italien ansieht, ist dieser Schritt absolut richtig. ... Nicht in Ordnung ist es jedoch, wenn die Verantwortung, ob ein Kind daheim bleibt oder in die Betreuung geht, allein den Eltern umgehängt wird. ... Die Eltern sollen sich 'solidarisch' mit der älteren Generation zeigen, meint Bildungsminister Heinz Faßmann. Da wäre es schön, wenn sich die Regierung auch mit den Eltern und ihren Arbeitgebern solidarisch zeigen und genaue Regeln einführen würde, wann Arbeitnehmer daheim bleiben können und wer die Kosten dafür übernimmt.“

Handelsblatt (DE) /

Zölle und Einfuhrquoten aussetzen!

Mehr Solidarität täte jetzt auch der Wirtschaft gut, schreibt das Handelsblatt:

„Die USA und China könnten im beiderseitigen Interesse ihre Strafzölle aussetzen. Der britische Premierminister Boris Johnson könnte seine Drohung fallen lassen, die wirtschaftlichen Beziehungen zur EU Ende des Jahres notfalls zu kappen, sollte bis dahin kein Freihandelsabkommen ausgehandelt worden sein. Und alle WTO-Mitglieder sollten sich verpflichten, für die nächsten sechs Monate alle Importzölle, Einfuhrquoten oder Exportverbote für medizinische Hilfsmittel, Desinfektionslösungen und Seifen aufzuheben. Ein solches Zeichen internationaler Solidarität würde nicht nur die Finanzmärkte beruhigen, sondern auch den Spielraum für gezielte Steuersenkungen, staatliche Überbrückungshilfen für notleidende Firmen und mehr öffentliche Investitionen vergrößern.“

republica.ro (RO) /

Quarantäne? Kümmert uns nicht

In den vergangenen zwei Wochen sind Tausende Rumänen aus Italien in ihre Heimat gereist. Der Journalist Florin Negruțiu kritisiert auf republica.ro, dass viele das Coronavirus völlig unterschätzen:

„Wir denken, uns trifft es ja nicht. Auch lassen wir uns von den Behörden nicht vorschreiben, was wir zu tun haben. Wir stellen uns vor die Schlange, gehen bei Rot über die Kreuzung, lösen die Dinge mit einem Schmiergeldsümmchen. Wenn sie Italien schließen, widersetzen wir Rumänen uns der Quarantäne, indem wir in unsere Heimat zurückreisen. Und nach unserer Rückkehr schmeißen wir eine Party für alle Leute. Wenn sie die Schulen schließen, finden wir eine Afterschool, in die wir die Kinder stecken können. ... Auch wenn es um unsere Gesundheit, die unserer Kinder oder unserer Eltern geht, kümmert es uns nicht gerade viel. ... Mir soll es gut gehen, der Rest kann abnippeln - schauen Sie sich um, Sie werden unzählige Landsleute finden, die so denken. “

Večernji list (HR) /

Risikogruppen-Egoismus ist inakzeptabel

Auch wer nicht zu einer gefährdeten Altersgruppe gehört, sollte das Virus nicht auf die leichte Schulter nehmen, schimpft Večernji list:

„Es ist falsch, stets zu betonen, dass das Coronavirus diejenigen am meisten bedroht, die über 80 Jahre alt sind, dann die über 70, 60 Jahre usw. Will man damit sagen, es sei weniger wichtig, wenn diese der Krankheit erliegen? Dem ist nicht so, wir kennen viele über 60, deren einzelner Beitrag zur Gesellschaft größer ist, als der von 20 jungen Menschen zusammen. Auch die Alten, die wegen Krankheit nicht viel zur Gesellschaft beitragen können, sind für jemanden unersetzbar. Jetzt ist nicht die Zeit dafür, dass sich die Gesunden und Empathielosen ihres sogenannten Mutes rühmen: Denn nicht der Panik zu unterliegen heißt nicht, dass man unverantwortlich den anderen gegenüber sein sollte.“

Dnevnik (SI) /

Sparpolitik im Gesundheitssektor rächt sich

Dnevnik blickt besorgt über die italienische Grenze und warnt vor einer Überlastung von Krankenhäusern und Arztpraxen auch in Slowenien:

„Was das Gesundheitssystem lähmt und mehr Todesfälle verursacht, ist der plötzliche rasche Anstieg der Zahl der Patienten, insbesondere älterer Menschen, die eine Intensivpflege benötigen. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems ist derzeit Italiens größtes Problem, dem auch die wieder engagierten pensionierten Beschäftigten nicht abhelfen können. Italien hat beim öffentlichen Gesundheitswesen jahrelang Kürzungen vorgenommen, und private Einrichtungen schließen in Zeiten von Epidemien oft sogar ihre Türen. Genau das kann auch uns passieren: Das jahrelang überlastete Gesundheitswesen, der ohnehin schon schwere Ärztemangel und der beschämende Zustand unserer Gesundheitsinfrastruktur könnten sich rächen.“

Dagens Nyheter (SE) /

Medikamente im Inland produzieren

Dagens Nyheter kritisiert die Strategie öffentlicher Institutionen, Aufträge für lebenswichtige Produkte an billige Zulieferer im Ausland zu vergeben:

„Ist es so klug, dass nahezu sämtliche Medikamente, deren Patent ausgelaufen ist, in ein paar wenigen Riesenfabriken in Asien hergestellt werden? Ist es clever, medizinisches Material im Heimatland weder herzustellen noch zu lagern? In Krisenzeiten zeigen sich Stärke oder Schwäche einer Gesellschaft. Kluge Bürger versichern sich selbst und ihr Eigentum - die Gesellschaft sollte das auch tun. Aber das kostet natürlich Geld. ... Mehr und näher angesiedelte Lieferanten mögen teurer sein. Ein Vierteljahr auf Medizin aus China warten zu müssen, verursacht aber ebenfalls Kosten - vor allem in Form von Ängsten und menschlichem Leid. Dem sollte ein Wohlfahrtsstaat seine Bürger nicht aussetzen.“

Atlantico (FR) /

Gefahr für andere Schwerkranke steigt

Covid-19 kann auch für Personen, die sich gar nicht damit angesteckt haben, tödlich sein, warnt Stéphane Gayet, Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie, im Interview mit Atlantico:

„Nicht dringende chirurgische Eingriffe (sogenannte geplante Eingriffe) kann man selbstverständlich ohne größere Schwierigkeiten verschieben. Aber auch Betten für Kardiologiepatienten, Krebstherapie und Langzeitbehandlungen werden wahrscheinlich in Beschlag genommen werden. ... Fatalerweise kann man sagen, dass die Heilungschancen für eine beträchtliche Anzahl von Patienten sinken, die an einer anderen Krankheit als Covid-19 leiden. ... Denn für viele fortschreitende Erkrankungen verringert eine Verzögerung der Behandlung die Überlebenschancen. Die Prioritätensetzung wird zu einer heiklen Angelegenheit. Und unser Krankenhaussystem wird durch die Krise noch weiter geschwächt.“

Õhtuleht (EE) /

Staat darf nicht auf Freiwilligkeit setzen

In Estland steht bisher lediglich eine Schule unter Quarantäne, da ein Schüler nach einem Italien-Urlaub erkrankt ist. Õhtuleht hält das Handeln des Staates für inkonsequent:

„Viele fragen, was die Quarantäne nützt, wenn die Schüler zu Hause bleiben, aber ihre Familienmitglieder weiter zur Arbeit, Schule und Kindergarten gehen. Es ist leicht zu sagen, dass diejenigen, die auch nur mittelbar mit dem Virus in Kontakt gekommen sind, aus eigener Initiative mehr tun sollten als die staatlichen Empfehlungen. Außer der Angst vor dem Virus gibt es allerdings wenig Motivation dazu, wenn die drei ersten Krankheitstage und freiwillig gekündigte Reisen nicht vergütet werden. Anders wäre es, wenn die Regierung entschieden handeln würde, auch gesunde Menschen krankschreiben und den Flugverkehr in Risikogebiete einstellen ließe.“

Irish Independent (IE) /

Mit höherem Krankengeld Konsum ankurbeln

Eine stärkere finanzielle Unterstützung für Coronavirus-Opfer ist auch im Interesse der Wirtschaft, erklärt The Irish Independent:

„Der Wert eines Sozialsystems nach europäischem Vorbild ist nie offensichtlicher als in Zeiten der Unsicherheit und des Schocks. Das Krankengeld gehört zu den ältesten Arten der Sozialhilfe. Es ist ein wichtiges Mittel, um Menschen zu helfen, wenn sich diese an einem Tiefpunkt befinden. In der Regel wurde diese Unterstützung jedoch nicht bewusst eingesetzt, um die Nachfrage in einer Volkswirtschaft anzukurbeln. ... Wegen des Coronavirus und dessen Folgen befinden wir uns in einer Situation, mit der wir nie zuvor konfrontiert waren. Es gibt nicht nur Gründe, den Zugang zu Krankengeld zu erleichtern, sondern auch dafür, die Zahlungen zu erhöhen, um einen potenziell starken Rückgang der Verbraucherausgaben zumindest abzuschwächen.“