Ist der Zusammenhalt der EU stark genug?
Anlässlich des 60. Jahrestags der Römischen Verträge bekannten sich 27 Staats- und Regierungschefs der EU - ohne Großbritannien - zum Zusammenhalt und zu gemeinsamen Werten. Die deutsche Kanzlerin Merkel forderte erneut ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Dieser Ansatz hätte zu einem früheren Zeitpunkt den Brexit verhindern können, meinen einige Kommentatoren. Andere lehnen das Konzept vehement ab.
Führer der EU haben sich verzockt
Hätten die Staats- und Regierungschefs schon früher ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten vorgeschlagen, wären negative Entwicklungen ausgeblieben, führt Postimees aus:
„Noch bis vor Kurzem haben Berlin und Paris als Hauptachse der Europäischen Union das Modell einer immer engeren Integration durchzusetzen versucht, während es dagegen einen immer stärkeren Widerstand der Mitgliedstaaten gab. Nun haben sich die EU-Spitzen für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten entschieden, das die EU reformieren und stärken soll. Das ist alles gut und schön. Doch man fragt sich schon, was passiert wäre, hätte es diese Richtungsänderung schon vor ein paar Jahren gegeben. Möglich, dass wir in diesem Fall nicht Zeugen des Brexit geworden wären und es auch die national-populistische Welle in dieser Form nicht gegeben hätte. Vielleicht wären Geert Wilders, Marine Le Pen und andere Populisten marginalisiert und keine politischen Schwergewichte wie heute.“
Noch schlimmer als der Brexit
Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist fatal, warnt To Vima:
„Die Völker Europas ignorieren auf dramatische Weise die Entwicklungen, die ihre Zukunft beeinflussen - weil sie diese nicht verstehen können oder wollen. Wie ist sonst die große Stille zu erklären, nachdem Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien sich für ein Modell ausgesprochen haben, das nichts mit einem vereinten Europa zu tun hat? ... Diejenigen, die sich die Folgen des Brexit fürchten, müssten im Boden versinken angesichts des Plans der Spitzen der vier großen EU-Mitglieder für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Dieser Plan ist das Gegenteil einer vertieften Integration. ... Es ist der größte Sieg des Euroskeptizismus in der 60-jährigen Geschichte der Europäischen Union.“
Zeit für mea culpa der Regierenden
Anstatt EU-skeptische Parteien für die Unbeliebtheit der Union verantwortlich zu machen, sollten Europas Regierende sich an die eigene Nase fassen, mahnt Le Quotidien:
„Muss unbedingt ein Schuldiger gefunden werden, so sollte er unter denjenigen gesucht werden, die an der Macht waren beziehungsweise sind. Es waren nicht die EU-feindlichen Parteien, die 2008 entschieden haben, die Banken zu retten und das bestehende Wirtschaftssystem unverändert zu lassen, so als sei nichts gewesen. Es waren nicht sie, die das griechische Volk haben ausbluten lassen. ... Es wäre vielleicht Zeit für eine Selbstkritik der europäischen Regierenden. Sie sollten die Fehler eingestehen, die sie möglicherweise begangen haben (wer ist schon tadellos?), und eine Art mea culpa ablegen. Vor allem aber müssen sie zeigen, dass die EU sich nicht auf die Klischees Spardiktat und Lobbyisten-Paradies reduzieren lässt.“
Paris und Berlin müssen EU neu entwerfen
Die Zukunft der EU liegt in den Händen der Gründungsstaaten Deutschland und Frankreich, erklärt Habertürk:
„Im Rückblick lässt sich sagen, dass die EU über die Achse Deutschland-Frankreich errichtet wurde und zwischen den beiden Ländern eine Arbeitsteilung herrschte: Frankreich übernahm bis zum Ende des kalten Krieges die politische Führerschaft, Deutschland zahlte als wirtschaftlicher Motor der Gemeinschaft die Rechnungen. ... Doch [nach dem Fall der Mauer] wurde Berlin Hauptstadt nicht nur des neuen Deutschlands, sondern auch von Europa. Aufgrund seiner Geschichte war Deutschland nicht begeistert, die politisch-strategische Führerschaft auf sich zu nehmen. Frankreich fing an, politisch zu schwächeln und Großbritannien wurde für Deutschland der wichtigste Partner. ... Die Brexit-Entscheidung hat dieses Gleichgewicht zerstört. Deutschland muss erneut mit Frankreich die EU neu entwerfen. Deshalb werden die Wahlen in Frankreich entscheiden, ob für die EU ein Neuanfang möglich ist.“
Kernländer machen Osteuropäer gefügig
Die Angst vor einem Europa der zwei Geschwindigkeiten stimmt die osteuropäischen EU-Mitglieder kompromissbereit, beobachtet der rumänische Dienst der Deutschen Welle:
„Als es um die Umverteilung der Flüchtlinge ging, konnten sich die Mitgliedstaaten wegen der Osteuropäer nicht einigen. … Doch von nun an wird der 'harte Kern' der Union eigene Initiativen verfolgen, die die Osteuropäer nicht mehr kritisieren können. … Die westlichen Länder sind bereits einem 'Europa der zwei Geschwindigkeiten' gefolgt, um die gemeinsame Währung zu verwalten. Gleichzeitig war dieses Konzept eine Verhandlungsstrategie gegenüber den Neuankömmlingen: Man verhält sich wie Arbeitgeber, die den Druck verstärken, wenn sie den Arbeitnehmern Kürzungen abverlangen. Zunächst ist von Massenentlassungen die Rede, nach den Protesten der Gewerkschaften einigt man sich darauf, dass alle bleiben, aber für weniger Lohn. Genau so funktionierte es nun in Rom, wo 'ein Kompromiss' vorgelegt wurde, den alle akzeptiert haben.“
Zerstrittene Union nicht überlebensfähig
Wegen der schlechten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten steht die EU vor einer düsteren Zukunft, fürchtet Efimerida ton Syntakton:
„Das riesige Gebilde der EU scheint nicht tragfähig zu sein. ... Sogar die überzeugten Europäer haben die Hoffnung verloren: wegen der so großen Ungleichheit innerhalb der EU, der verschiedenen Geschwindigkeiten, der Arroganz einiger großer Länder. Wie können Staaten koexistieren, wenn sie sich gegenseitig beschimpfen? Wie kann eine Union existieren, wenn es keine Einheit und keinen Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten gibt? ... Angeblich soll ein vereintes Europa in der Lage sein, jederzeit jedes Mitglied zu verteidigen, das sich in einer schwierigen oder gefährlichen Situation befindet, wenn es zum Beispiel von einem feindlichen Staat angegriffen wird. Es ist ein Witz, über Demokratie und Frieden zu sprechen, wenn man zugleich seinen Blick von der Existenz türkischer Besatzungstruppen in Zypern abwendet.“
Marius Ivaškevičius bleibt in Europa verliebt
Seine Liebe für Europa bringt der litauische Schriftsteller Marius Ivaškevičius in Delfi zum Ausdruck:
„Heute, da Europa von allen Seiten angegriffen und geprügelt wird, reagiere ich darauf wie ein Verliebter: Auf die eine Waagschale lege ich alle Mängel dieses Europas und auf die andere die Frage, ob ich ohne es leben könnte. Und kein einziger seiner Mängel und nicht einmal alle zusammen wiegen so schwer wie diese Frage. Ich wüsste nicht, wie ich ohne es weiterleben sollte. Deshalb will und kann ich mich dem Chor jener nicht anschließen, die es belehren und ihm raten, wie es sein und in welche Richtung es sich ändern sollte: Soll es seltener in den Club und öfter in die Kirche gehen, so aussehen und nicht anders, Geld ausgeben oder sparen, die einen lieben und die anderen nicht? Wie einem echten Verliebten scheinen mir diese Fragen heute nicht wesentlich zu sein, zumal jene, die sie stellen, dann gerne den Satz so beenden: Wenn Europa es nicht so macht, wie ich sage, dann ist es verdammt. Vergesst es.“
Senilität statt Vitalität
Ganz und gar nicht in Feierlaune ist Expresso:
„Die EU offenbart momentan mehr Anzeichen von Senilität als Vitalität. Das von Jean Monnet und Robert Schumann geträumte Europa leidet unter fünf Übeln: die Teilung zwischen Nord- und Südeuropa, die immer deutlicher wird (wie die jüngsten Aussagen von Dijsselbloem gezeigt haben); das Risiko eines Zerfalls, das sich mit dem Brexit exponentiell erhöht hat; ein populistischer und autoritärer Drift, der immer mehr Anhänger findet; ein nicht erklärter Krieg [Terrorismus], der im inneren der Union Opfer fordert ... Und schließlich die Unfähigkeit, gemeinsame wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen um das Wachstum anzukurbeln und die Staatsschuldenkrise zu lösen. Die EU bewegt sich in Richtung eines unaufhaltsamen Niedergangs. Und nur die Erkenntnis, dass die Welt, die folgt, deutlich schlimmer sein wird als die jetzige, kann diese Entwicklung aufhalten.“
Zwei Geschwindigkeiten werden zur Realität
"Wir werden gemeinsam - wenn nötig mit unterschiedlicher Gangart und Intensität - handeln, während wir uns in dieselbe Richtung bewegen", heißt es in der Erklärung von Rom. Gość Niedzielny sieht das kritisch:
„Es ist nicht so, dass die Römische Erklärung etwas Unwesentliches wäre - im Gegenteil. Sie gibt offen die Vision vor, welche die Gemeinschaft verfolgen soll, auch wenn der Weg dahin noch konkretisiert werden muss. ... Wir sollten uns jedenfalls nicht der Illusion hingeben, dass diese Erklärung die Richtung für die EU bereits klar vorgibt. Es handelt sich dabei um das Europa der zwei Geschwindigkeiten, von dem im Westen bereits immer so viel die Rede ist. Es existiert bereits seit Jahren. Jetzt gibt es eine klare Aussage zur Vertiefung dieser Teilung.“
Europa-Genervte bilden die Mehrheit
Hubert Védrine, ehemaliger Außenminister (1997 bis 2002) und Europa-Befürworter, warnt in einem Interview mit Le Figaro vor der Mehrheit der von der EU enttäuschten Bürger:
„Die größte Gefahr für das europäische Projekt ist intern: Das Volk in Europa macht nicht mehr mit. Selbst wenn man die wirklich anti-europäisch eingestellten, wie die Wähler des Front National in Frankreich oder die Linksextremen weglässt. Wenn man nur die Gleichgültigen (60 Prozent Enthaltung bei den Europawahlen), die Skeptiker, die Enttäuschten und die, die auf die übermäßige, aufdringliche und nervige Regulierung allergisch reagieren, mitzählt, dann formen jene in fast allen europäischen Ländern eine Mehrheit. ... Das ist viel schlimmer und wichtiger als die Asylbewerber- und Migrantenströme, die Provokationen Putins oder die Beleidigungen und Marotten Trumps. Komischerweise wird diese Diagnose, so offensichtlich sie auch sein mag, noch nicht von allen geteilt. Selbst diejenigen, die darin übereinstimmen, ziehen nicht die gleichen Konsequenzen daraus.“
Kein Wunder, dass Briten den Brexit wählten
Die europäische Integration ist zu einem Irrweg geworden, die Kosten sind mittlerweile höher als der Nutzen, bilanziert The Daily Telegraph kritisch:
„Der Euro hat zur Zerstörung von Volkswirtschaften beigetragen. Ein komplexer und widersprüchlicher Zugang zum Thema Zuwanderung hat es deutlich schwieriger gemacht, die Flüchtlingskrise zu bewältigen. ... Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat Großbritanniens EU-Austritt als 'tragisch' bezeichnet. Wie zu erwarten hat er dafür eine Tendenz, die er bei uns Briten erkannt haben will, verantwortlich gemacht: nämlich die EU als Wurzel aller Probleme zu sehen. Das ist eine durchaus richtige Interpretation der britischen Politik. Doch Juncker täte besser daran, zu ergründen, warum die Euroskepsis mehrheitsfähig wurde. Die britischen Wähler sind nicht irrational. Sie haben sich genau angesehen, wie viel dieses EU-Projekt kostet und wo es hinführt - und sie haben befunden, dass es nicht länger etwas für sie ist.“
Jugend will nicht zurück zum Nationalstaat
Optimistisch blickt immerhin Die Presse in Europas Zukunft:
„Wird die EU weitere 60 Jahre bestehen? Seriös beantworten wird dies wohl niemand können, doch es gibt durchaus Hoffnung - und die ruht vor allem auf der jüngeren Generation. Wie die meisten Umfragen in den verschiedenen Ländern zeigen, sind es vor allem die Älteren, die zu EU-Skepsis neigen. Gezeigt hat sich das unter anderem bei der Brexit-Abstimmung in Großbritannien, bei der die Mehrzahl der Jüngeren für einen EU-Verbleib gevotet haben. Auch in den Oststaaten, wo es sehr starke Anti-EU-Ressentiments gibt, ist es die jüngere Generation, die durchaus europäisch denkt. Viele von ihnen sind aufgewachsen in einer Zeit, als man ungehindert über die meisten Grenzen fahren konnte, sie kennen die Freiheit, da und dort in Europa zu studieren oder erste Jobs anzutreten. ... Diese Generation, die nach und nach auch mehr zu sagen hat, will sich diese Freiheiten nicht von nationalistischen Blockierern nehmen lassen.“
Auftakt zur "echten EU"
Obwohl wenig Konkretes in der Erklärung zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge zu lesen sein wird, könnte sie zu einem Wendepunkt in der EU-Geschichte werden, glaubt Der Standard:
„Vom naiven Fortschrittsglauben von 1957 ist keine Rede mehr. So viel Reflexion und realistische Einsicht, dass es wie derzeit nicht weitergehen kann und wird, hat es in einem wichtigen Dokument selten gegeben. Rom will Auftakt zur Bildung einer anderen, einer 'echten Union' von Staaten sein. Die Briten sind schon nicht mehr dabei, andere könnten folgen. Die Türkei bleibt out. Aber ein Kern von Ländern, die gemeinsame Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik machen wollen, dürfte bis 2027 doch entstehen. Das wird dauern. Die Sache ist komplex. Aber wer die aktuelle Lage und Lähmung in Europa, die Entwicklung der USA unter Präsident Donald Trump und die globale Wirtschaftsentwicklung - China - vor Augen hat, ahnt auch: Die Union hat gar keine andere Wahl.“
Zwei-Klassen-Union gefährdet Zusammenhalt
Für Diena wird die Freude über das Jubiläum durch die jüngst wieder aufgeflammte Diskussion um ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten getrübt:
„Zunächst wurde erwartet, dass in Rom eine besondere Deklaration angenommen wird, die bestätigt, dass alle EU-Länder des vereinten Europa seinen Idealen vertrauen. Doch am Vorabend des Gipfels zeigen sich eine Reihe von Widersprüchen zwischen den EU-Ländern und der Weg in eine rosige europäische Zukunft scheint nicht mehr so glatt zu sein. ... Es sieht leider so aus, dass das sogenannte alte Europa und die nordischen Länder nicht mehr in einer demonstrativ einheitlichen EU leben wollen. Gleichzeitig weigern sich die ärmsten Länder der Allianz - ein Teil Südeuropas, Osteuropa und die baltischen Staaten - in ihrer Mehrheit kategorisch, sich als Europäer zweiter Klasse zu sehen. Wenn für diesen Widerspruch nicht mindestens eine teilweise akzeptable Lösung gefunden wird, dann könnte dies zu einem Faktor der Desintegration der EU werden.“
Europas Glück hängt auch an Afrika
Mit welchen enormen Problemen Europa noch für lange Zeit konfrontiert sein wird, zählt De Standaard auf:
„Das verarmte Griechenland bleibt noch Jahrzehnte im Sumpf. Italien kann noch immer implodieren. In Spanien und Portugal sind Generationen von Jugendlichen abgehängt. Die Medizin, die verschrieben wurde, hinterließ tiefe Bitterkeit. ... Aber auch die andere grundlegende Krise wurde nicht gelöst. Das Abriegeln der Balkanroute und das ehrlose Abkommen mit dem unzuverlässigen türkischen Präsidenten Erdoğan haben das Problem nur weniger sichtbar gemacht. ... Die Finanzmacht von Deutschland und seinen Satelliten nimmt stetig zu. Wenn das nicht verändert wird, dann macht das die Gräben in der Währungsunion noch größer und das Fortbestehen des Euro unmöglich. Genauso führt der himmelweite Unterschied, was die Zukunftsaussichten betrifft, unvermeidlich zur Volkswanderung von Afrika nach Europa. Nur wenn man die Kluft mit allen Mitteln verkleinert, gibt es eine Chance auf Stabilität.“
Achse Paris-Berlin neu beleben
Wenn Deutschland und Frankreich wie früher an einem Strang ziehen, könnten sie Europa aus der derzeitigen Krise führen, erklärt Financial Times:
„Frankreichs Schwäche hat Deutschland in eine verwundbare Lage und die EU aus dem Gleichgewicht gebracht. So fand sich Kanzlerin Angela Merkel ohne eigenes Zutun in zwei Rollen gleichzeitig wieder: als widerwillige Führerin des Kontinents und als dessen größter Bösewicht. ... Es gibt keine Zauberformel, um die Risse in dieser zersplitterten Union zu kitten. Eine französisch-deutsche Lokomotive hat in einer EU mit 27 Mitgliedern weniger Zugkraft als in einer mit sechs. Doch eine wiederhergestellte Beziehung zwischen Berlin und Paris wäre eine wichtige Quelle des Selbstvertrauens. Sie könnte darüber hinaus den Anfang markieren für ein neues 'Kerneuropa' mit dem Willen und der Fähigkeit, die Zusammenarbeit zu vertiefen. Auch wenn es derzeit schwer fällt, in Bezug auf Europa zuversichtlich zu sein, sollten wir zumindest weniger pessimistisch sein.“
Wie Europa zur Heimat werden kann
Wenn sich die Bürger Europas heimisch und sicher fühlen, könnte die EU irgendwann tatsächlich das werden, was sie sein sollte, hofft Politologe Antonio Polito in Corriere della Sera:
„Endlich ist man nun dabei, das zu schaffen, was immer fehlte: eine gemeinschaftliche öffentliche Sphäre, das Anzeichen eines europäischen Demos, eines Staatsvolkes und eine politische Arena, in der in jedem Land gleichzeitig über dasselbe diskutiert wird. In ganz Europa spricht man über Europa. Vielleicht wie nie zuvor ist das, was von einigen wenigen Erleuchteten ersonnen wurde und zur Praxis zu vieler Bürokraten degradierte, in aller Munde - häufig um verflucht, doch nicht minder häufig, um angerufen zu werden. ... Vermutlich werden weitere 60 Jahre nicht ausreichen, damit die europäischen Völker Europa wirklich als ihre Heimat empfinden. Doch um hoffen zu dürfen, dass eines Tages die inneren Grenzen wirklich aufgehoben werden, muss man beginnen, sie durch neue, äußere Grenzen zu ersetzen. ... Physische und kulturelle Grenzen - offen, ja, aber sicher und bewacht.“
Wie Europa französisch wurde
Inwiefern Europa infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise immer mehr französische Ideen umgesetzt hat, verdeutlicht Arnaud Leparmentier in Le Monde:
„Nach zehn Jahren Krise ist Europa nicht mehr wiederzuerkennen: Eine 'Entgermanisierung' und 'Entanglosaxonierung' haben eingesetzt. Wir haben nicht nur erlebt, wie sich die EZB politisiert und die Notenpresse angeworfen hat. Sondern wir sahen auch eine finanziell solidarische Eurozone, den Verbleib Griechenlands in der Währungsunion, den Amtsantritt des Christsozialisten Juncker als Kommissionschef, das Ende der Sparpolitik, eine aggressive Wettbewerbspolitik, die Apple dazu zwingt, in Irland Steuern zu zahlen und die Wiederbelebung einer europäischen Verteidigungsunion vor dem Hintergrund des Rückzugs der USA... Angestoßen wurden diese Umbrüche von François Hollande, manche hatte bereits Nicolas Sarkozy eingeleitet. Aus Frankreich kommen nun also wieder Ideen - gute ebenso wie illusorische.“
Nationalstaaten haben allein keine Chance
In einer gefährlichen Welt muss Europa zusammenstehen, fordert die Wiener Zeitung:
„Mit Donald Trump sitzt ein US-Präsident im Weißen Haus, der von der EU nichts hält (und sie nicht versteht oder verstehen will). Mit Wladimir Putin sitzt ein russischer Präsident im Kreml, der die EU zerstören will und offen politische Kräfte unterstützt, die dabei helfen. Und mit Recep Tayyip Erdoğan sitzt ein Präsident im Großmannssucht-Palast in Ankara, der jeden Bezug zur Realität verloren hat. In einem solchen geopolitischen Umfeld ist Europa einerseits bedroht, andererseits muss die EU eine antipodische Kraft sein. Nicht Nationalstaaten können dies bewerkstelligen, sondern nur Europa gemeinsam. Viele Bürger haben dies begriffen. Der unaufhaltsam erscheinende Vormarsch der Rechtspopulisten bleibt stecken.“
Einzelne Mitglieder werden vorangehen
Die EU wird ihre Zusammenarbeit neu ausrichten müssen, um weiterhin funktionieren zu können, analysiert die Bloggerin Adelina Marini:
„Es wird das bisher vorherrschende Konzept 'Alle gehen in eine Richtung, aber einige machen nicht mit' ins Gegenteil umkehren. Man wird nicht mehr um jeden Preis die Einigkeit suchen. Das Opt-Out-Recht wird dem Opt-In-Recht weichen. Da es im Moment keine Bereitschaft für eine Veränderung der EU-Verträge gibt, werden die EU-Gesetzgeber immer häufiger auf das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit zurückgreifen müssen. ... Das wird den Mitgliedsländern, die ein schnelleres Tempo haben, die Möglichkeit geben, weiter zu gehen ohne auf eine Öffnung der EU-Verträge für entsprechende Änderungen warten zu müssen. In dieser Übergangszeit wird es ernsthafte Umwälzungen in der EU geben, die nicht sofort spürbar sein werden, aber die Grundlage für neue Gespräche zur Zukunft der EU bilden werden - möglicherweise zu ihrem 70. Jubiläum.“
Solidarität funktioniert nur in guten Zeiten
Es liegt nicht allein an Osteuropa, dass der Wille zu mehr Europa immer geringer wird, meint der Kolumnist Radu Crăciun auf dem Blogportal republica:
„Identitäts- und Integrationsprobleme haben nicht nur die osteuropäischen Länder. Skepsis gegenüber einer stärkeren Integration ist auch in der Bevölkerung der westlichen EU-Staaten zu finden. ... Diese Skepsis hat den Aufstieg des Nationalismus in Mitteleuropa vorangetrieben, der auch dadurch genährt wurde, dass es der politischen Klasse in all den Jahrzehnten nicht gelungen ist, eine europäische Identität aufzubauen, die die starken nationalen Identitäten, die es in Europa immer noch gibt, allmählich verblassen ließen. Der Enthusiasmus der Europäer für eine Integration ließ mit der Zeit immer mehr nach, während die Kurzsichtigkeit der Politiker anhielt. ... Das blieb unbeobachtet, solange Europa florierte. Die nationalen Divergenzen verstärkten sich, als es zur Wirtschaftskrise kam. Die Solidarität, die in guten Zeiten noch funktionierte, war in schlechten Zeiten nicht mehr funktionsfähig.“
Europa könnte im Krieg versinken
Die gegensätzlichen Werteunterschiede in Europa verheißen mit Blick auf die Zukunft der EU nichts Gutes, gibt sich der Ökonom László Árva in Magyar Nemzet denkbar pessimistisch:
„In Europa gibt es heute mindestens vier große Wertesysteme, die einander diametral entgegenstehen. Hinzu kommt jene Gruppe korrupter Politiker, die nur darauf bedacht ist, sich selbst und ihre Familien zu bereichern und die zwischen den einzelnen Wertesystemen laviert. ... Zusätzlich verschärft werden die Gegensätze der Wertesysteme durch jene ökonomische Krise, die seit den 1970er Jahren weltverändernd wirkt und gemeinhin unter dem Namen Globalisierung firmiert. ... Die heutigen Dilemmas der EU werden friedlich wohl äußerst schwer zu lösen sein. Auch in den USA war 1861-65 ein Blutvergießen letztlich unumgänglich. Wir wissen aus der Geschichte, dass es bisher noch nie gelang, eine supranationale Organisation auf friedlichem Wege zu schaffen und aufrechtzuerhalten.“